Meine älteste Freundin

Biografisches

Ich liebe Lesungen. Ich weiß, es gibt Autoren, die über Lesungen und Lese­reisen stöhnen, andere erzählen davon kleine pikante Geschichten; ich liebe sie schlicht und einfach, die Lesungen. Ich habe lange für Funk und Fernsehen geschrieben, da schreibt man für seinen Redakteur und seine Verwandtschaft, und beide sind nicht überschwänglich begeistert, wenn man ein Manuskript abliefert oder wenn eine Sendung, die man »gemacht« hat, endlich läuft. So ist das Leben.

Kurz und gut, ich liebe es, Publikum vor mir zu haben. Am besten bin ich, wenn mehr Interessierte kommen, als der Veranstalter erwartet hat. Wenn zusätzliche Stühle in den Raum getragen werden, steigt der Adrenalinspiegel und der Humor auch. Wenn weniger kommen, macht's mir auch nichts mehr aus. Es ist angenehm, wie die Veranstalter die Schuld bei sich oder dem Wetter oder der Konkurrenz suchen, nie beim Autor. Eine alte Schauspielerin, die vor Lampenfieber kaum auftreten konnte, hat mir einmal gesagt: »Ich hasse das Publikum. In der Jugend weiß man nicht, wie es reagieren wird. Im Alter weiß man, wie es reagieren kann ... « Ich für meinen Teil musste niemals die Bestie Publikum zähmen. Ich habe nie etwas Irritierendes erlebt als die beiden Blinden in der ersten Reihe, die reglos dasaßen und sich ihre Blinden­stöcke stützten, und als sie am Ende mit den Stöcken Beifall stießen, war mir, als hätte ich einen Orden bekommen.

Soweit meine Lebensgeschichte, zur Einstimmung gewissermaßen. Nun der konkrete Fall. Ich hatte vor zwei Jahren eine Lesung im Rheinland, fast schon an der holländischen Grenze. Ich erinnere mich, dass mir der Taxifahrer, als er mich vom Bahnhof zum Hotel brachte, ein Haus zeigte und sagte: Hier! Jetzt kommen wir gleich an dem Haus vorbei, wo Goebbels geboren wurde. Ich höre noch den geheimen Stolz in seiner Stimme, als er das sagte. Natürlich sind die Nazigrößen alle mal Lokalhelden gewesen, aber ich hatte nicht geglaubt, dass sie es immer noch sein könnten. Übrigens machte das Haus, in dem er geboren worden war, der Reichspropagandaminister, nicht viel her; wenigstens nicht beim Vorbeifahren.

Ansonsten alles wie immer: ein Hotelzimmer mit Minibar und Aussicht auf ein Stück Gras, das vorgefertigt ausgelegt schien, später das Taxi, das mich zur Stadtbibliothek brachte, eine moderne Freihandbibliothek, die sich viel Mühe gab, die Hemmschwelle niedrig zu halten. An diesem Abend kamen nicht besonders viele Interessierte, aber auch nicht auffallend wenige. Ich bot mein Programm, erzählte über meinen neuesten Roman und über mich und wie es mit dem Schreiben ist und wie sich die Figuren beim Schreiben selbständig machen; eben das, von dem ich glaube, dass es für Leser interessant sein könnte.

Anschließend kam der Punkt Signieren, gehört ja auch dazu. Man will sich die Weihen des Autors holen, und der erteilt sie gern, und an diesem Abend blieb genug Zeit, jeder und jedem das ins Buch zu schreiben, was sie oder er da gerne sehen will. Nicht nur Für Anna und Herzlich, sondern nach Möglichkeit noch etwas Persönliches, so als seien sich Autor und Leser seit langem verbunden. Die Schlange wurde kürzer, jeder präsentierte sein Buch; einige waren an diesem Abend gekauft worden, andere früher, wie das so geht. Ab und an kommt es bei solchen Gelegenheiten zu kleinen erotischen Annäherungen von der Art: Sind Sie morgen auch noch hier? An diesem Abend und in dieser Stadt ergab sich keine Versuchung, und alles näherte sich dem vorgesehenen Ende, dem kleinen Umtrunk mit den Veranstaltern, da legte mir eine nette Frau eins meiner Bücher vor – offenbar war es bereits gelesen – und bat mich: »Schreiben Sie bitte rein: ›Für meine älteste Freundin!‹. Nun ist es nichts Besonderes, dass ich aufgefordert werde Für meine Großmutter oderFür Onkel Erwin zu signieren. Ich erkläre (und mühe mich, dabei nicht belehrend zu wirken), dass Onkel Erwin ja nicht mein Onkel ist und die gemeinte Großmutter auch nicht die meinige. je nachdem ergibt sich daraus ein kleines Schmunzeln oder ein Mini-Dialog wie beim Buchbinder Wanninger. Meine Leserin blieb aber dabei: »Nein, schreiben Sie nur: ›Für meine älteste Freundin‹. Es ist so!«

Irgendetwas in ihrer Stimme oder in der Art, wie sie ihr Anliegen vortrug, sagte mir: Mach es! Sie weiß, was sie sagt. Ich schrieb also Für meine älteste Freundin ... und stockte dann und sah sie an, und sie half mir: »Ich bin
Rita ... « Wie zum Beweis hatte sie ein kleines quadratisches Foto mitgebracht, die Ränder gezackt und sechs mal sechs, ein ehemals beliebtes Format. Das Bild war im Laufe der Jahre gelblich geworden, und ich warf nur einen Blick drauf, und alles war wieder da. Natürlich nicht alles, aber das Entscheidende, die Stimmung, der Geruch nach Rosenbüschen und Gemüsesuppe, die es für mich schon zum Frühstück gab, selbst der furchtbare Ton der Luftschutzsirenen war wieder im Ohr. Auf dem Foto sah man einen kleinen Leiterwagen und Fahrräder rechts und links von einer Reihe kleiner Ro­senbüsche. Und in dem Leiterwagen saß ein etwa dreijähriges Mädchen mit Zöpfen, in einem Kleidchen der vierziger Jahre. Ein kleiner Junge mit Locken zog den Wagen, und meine Mutter stand auf der Treppe zur Haustür und beobachtete die Szene. Das Mädchen im Leiterwagen war natürlich Rita, und der Junge mit dem staunenden Gesichtsausdruck war ich als Drei- oder Vierjähriger, damals Peterchen genannt. Ich kannte das Foto; ich musste nur einen Blick drauf werfen. Es gehört zu den wenigen aus meiner Kindheit, die noch existieren, und aufgenommen hat es meine Tante Trude mit einer Spiegelreflexkamera. Man hielt sie vor den Bauch und sah von oben hinein. Immer wenn sie uns besuchte, fotografierte sie uns, entweder vor oder hinter dem Haus. Entweder standen wir auf der Treppe oder auf der Terrasse hinter dem Haus, je nachdem, wie das Licht war. Das Foto, das Rita mitbrachte, muss 1941 oder 42 aufgenommen worden sein. Mein Vater war damals Soldat – »ein Wehrmachtsangehöriger«, wie meine Großmutter das nannte –, und meine Mutter vermietete monatsweise Zimmer im Haus, und Ritas Familie hatte das Zimmer zum Garten, neben dem Badezimmer mit dem hohen schlanken Badeofen, der jeweils rechtzeitig angeheizt werden musste; mindestens zwei Stunden, bevor man baden konnte. An Ritas Eltern habe ich keine deutlichen Erinnerungen, aber an Rita. Sie war damals fordernd; selbstbewusst würde man heute sagen, doch ich denke, sie war vor allem fordernd. Dass ich auf dem Bild den Leiterwagen gezogen habe, ist kein Zufall; Rita liebte es, gefahren zu werden, und ich fuhr sie liebend gern.

Ja, sie hatte Recht, sie ist meine älteste Freundin. Bei ihr habe ich die Verlegenheit kennen gelernt und die Hilflosigkeit, die man an den Tag legt, wenn man verliebt ist, und den Übereifer, mit dem man sich beliebt machen will. Ich erinnere mich, ich musste nachts die Leute im Haus wecken, wenn Bombenalarm war; die Menschen hatten den ganzen Tag gearbeitet und überhörten oft die Sirenen. Dann musste ich an die Türen klopfen und rufen: Fliegeralarm! An Ritas Tür habe ich jeweils angefangen und noch mal geklopft, wenn mein Rundgang durchs Haus zu Ende war. Wir haben während des Alarms unten im Keller gesessen – sie bei ihren Eltern, ich bei meiner Mutter. stumm, wenn auch die Erwachsenen verstummten, und wir haben uns in die Augen gesehen, und damals dachte ich, wir hätten uns etwas versprochen. Wenn es so war, haben wir es nicht gehalten; wir haben uns aus den Augen verloren, und jeder hat sein Leben gelebt, und wäre ich nicht zu einer Lesung eingeladen worden, ich hätte sie nie wiedergesehen.

Übrigens hat sie mir im Übereifer einmal den kleinen Finger der rechten Hand in der Tür ihres Zimmers eingeklemmt; sie hatte es vergessen, ich nicht.

(Dieser Beitrag erschien 2004 in der Anthologie ›Freundschaften‹, herausgegeben von Marie-Luise Marjan, im Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg.)