Das Wichtigste, das ich von meinem Vater weiß: Er hieß Alfred Schreeb, wurde am 2. April 1906 in Wiesbaden geboren und geriet am 26. Juni 1944 bei Subarewitsch im Raum Bobruisk schwer verletzt in russische Kriegsgefangenschaft. Möglicherweise kam er an dem Tag aber auch auf dem Schlachtfeld um. Bei den ›Abwehrkämpfen im Raum Bobruisk‹ verlor die Wehrmacht rund 400 000 Soldaten, etwa 130 000 Gefallene und 262 000 Gefangene. Bobruisk selbst liegt in Weißrussland, rund 150 Kilometer von Minsk entfernt. Vor allem aber liegt Bobruisk an der Beresina. Hier fand schon 1812 Napoleons Grande Armée ihr Ende und auch der verzweifelte Versuch der deutschen Truppen, 1944 über die Beresina zu entkommen, führte zu grauenhaftem Gemetzel.
Aber weiter über meinen Vater. Sein Vater war Georg Schreeb, zur Zeit der Geburt meines Vaters Besitzer eines kleinen Hotels am Geisberg in Wiesbaden. Seine Mutter, also die Mutter meines Vaters, meine Großmutter, war Frieda Schreeb, geborene Doos. Sie ist die Heldin meiner Romane ›Hotel Petersburger Hof‹ und ›Gute Jahre‹; in beiden Büchern kommt mein Großvater nur als Randfigur vor. Mein Vater war der jüngste der drei Söhne von Georg und Frieda, auch der Kleinste. Bei der Musterung im Jahre 1937 war er 167 cm groß.
Mein Leben lang habe ich geglaubt, was man mir über den beruflichen Werdegang meines Vaters erzählte; viel war es eh nicht. Danach hatte er in der Küche des Wiesbadener Luxushotels ›Rose‹ gelernt und war in den zwanziger Jahren zusammen mit seinem Bruder Willy nach New York ausgewandert. Tatsächlich sind die Namen der Beiden heute noch in den Passagierlisten des Hapag-Lloyd zu finden.
In New York brachte es mein Vater dann bis in die Küche des Waldorf-Astoria Hotels. Ende der zwanziger Jahre, nach dem Tod meines Großvaters, kamen die Beiden, Willy und mein Vater, zurück, um meiner Großmutter bei der Führung des Hotels am Geisberg beizustehen. Die brauchte aber keine Hilfe.
Darauf eröffnete Willy einen Zigarrenladen am Kureck und mein Vater unternahm Verschiedenes. Nach den Erzählungen war er unter anderem beim Wiesbadener Finanzamt tätig und als ›Reiseleiter‹ bei den ›Weißen Kurautobussen‹.
Im Herbst 1939 – da war der sogenannte Polenfeldzug schon vorbei – meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht. Wenige Tage vor Weihnachten 1939, genau genommen am 16. Dezember 1939, wurde er eingezogen und in Sieradsch im Warthegau am Gewehr und am Fernsprecher ausgebildet.
Dann war erst mal Pause; ab Mai 1940 kämpfte er als Infantrist über Jahre erst in Frankreich, dann ›im Osten‹ und stieg dabei vom Gefreiten zum Obergefreiten auf. Bis er, am 26. Juni 1944, der Wehrmacht im Raum Bobruisk / UdSSR verloren ging. Seitdem wurde er von den Behörden als ›vermisst‹ geführt.
Meine Großmutter befragte viele Hellseherinnen nach seinem Schicksal; unter anderem die berühmte ›Buchela‹, die angeblich selbst das Ohr von Kanzler Adenauer hatte. Die Meisten der Hellseherinnen versicherten meiner Großmutter, ihr Alfred kehre heil zurück; im Augenblick sei er für die Russen noch unentbehrlich. Er kam jedoch nie zurück. Wir wussten mit Sicherheit nur, was ein Offizier seiner Einheit meiner Mutter mitgeteilt hatte: Mein Vater war bei der mörderischen Schlacht rund um Bobruisk schwer verwundet worden, bedeutete: Er war auf viehische Weise ums Leben gekommen.
In den fünfziger Jahren wurde er für tot erklärt.
Ich selbst bin 1938 geboren und habe entsprechend nur wenige undeutliche Erinnerungen an meinen Vater: Einmal schießt er mit dem Gewehr auf eine Flasche im Garten, trifft auch; das andere Mal sitzen wir, meine Mutter, mein Vater und ich, in den ›Rheinterrassen‹ am Biebricher Rheinufer und essen Mischgemüse und Frikadellen. Ich weiß nicht mehr, wie er aussah. Nicht mal, ob er eine Uniform trug oder Zivil; ich vermute Uniform. Eine Szene hat sich mir besonders eingebrannt. Da beugen wir, er und ich, uns über das Geländer einer Eisenbahnbrücke am Ende der Biebricher Allee; unter uns fährt ein Zug in den Rheingau und mein Vater empfiehlt mir, später Eisenbahnrat zu werden. Dieser Ratschlag hat sich mir so eingeprägt, weil ich nicht verstand, was er mir da empfahl: Wie sollte ich ein Rad werden? Mit vier oder fünf hat man eben noch nicht die richtigen Vorstellungen von den Feinheiten der Höheren Eisenbahnlaufbahn.
Ich muss zugeben, ich habe meinen Vater nie vermisst. Als ich ein Junge war, hatten die wenigsten Kinder Väter. Und die Väter, die ich kennenlernte, erweckten in mir nie den Wunsch: So etwas müsstest du auch haben! Die Männer wirkten damals durch die Bank wie geprügelt. Vor meinen Onkel Willy hatte ich regelrecht Angst und bin ihm aus dem Weg gegangen, wo und wie ich nur konnte. Er benahm sich grauenhaft, aber alles wurde ihm nachgesehen, weil er ›Kriegsheimkehrer‹ war und im Krieg ›verschüttet‹.
Eigentlich fing ich erst an, mich für meinen Vater zu interessieren, als ich bereits über Siebzig war. Ich wohnte da seit einigen Jahren in Berlin und jemand machte mich auf die WASt aufmerksam, die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht. Diese ›Wehrmachtauskunftstelle‹ – sie heißt mittlerweile WISt und ist nun Teil des Bundesarchivs – befand sich im Berliner Stadtteil Reinickendorf, und die Mitarbeiter dort waren ausgesprochen freundlich und hilfsbereit. Sie sagten mir, es könne sein, dass sie nicht die geringsten Informationen über meinen Vater hätten, womöglich könnten sie aber auch sein ganzes militärisches Leben dokumentieren. Einige Wochen später bekam ich von der Dienstelle einen dicken Brief – seinen Wehrpass in Fotokopien.
Der Wehrpass beantwortete viele Fragen und warf neue Rätsel auf.
Das fing damit an, dass in der Rubrik ›Erlernter Beruf‹ eingetragen war: »Bankangestellter« und in der Rubrik ›Ausgeübter Beruf‹: »kaufmännischer Angestellter«. Weiter wird ein Mittelschul-Abschluss bescheinigt und Englisch als Fremdsprachenkenntnisse.
Die Frage war für mich: In welcher Bank war er ausgebildet worden? Und wann? Und wenn er alles gelernt hat, was man üblicherweise in einer Bank wissen muss, wer und wann hatte ihm dann das Kochen beigebracht?
Selbstverständlich konnte er bei der Musterung und beim Eintritt in die Wehrmacht falsche Angaben gemacht haben. Aber wer machte das schon und warum sollte er? Warum sollte Alfred Schreeb verschweigen, dass er in zwei Häusern von Weltruf am Herd gestanden hatte? Man kann sich bei einiger Phantasie vorstellen, dass er vermeiden wollte, Feldkoch zu werden.Dieser Gedanke ist nicht vollkommen abwegig; Feldköche waren zwar angesehene Leute, aber sie hatten auch einen gefährlichen Job. Der Gegner hatte es oft auf die Feldküche abgesehen; entsprechend kamen viele Köche ums Leben.
Aber ich gebe zu, diese Überlegung überzeugt nicht mal mich. Immerhin war er bei der Musterung schon 31 Jahre alt und wie sollte er 1937 auf den Gedanken kommen, dass er je in einem Weltkrieg kämpfen würde?
Nun, das Rätsel wird für ewig ungelöst bleiben – es gibt niemanden mehr, den ich fragen könnte.
Mein Vater war zweimal verheiratet; in beiden Ehen hatte er Kinder. Aus der ersten, in Rüsselsheim, ging mein Halbbruder Adam hervor; fünf Jahre älter als ich und sein Leben lang Architekt und Bauunternehmer in Rüsselsheim. Meine Schwester Ingeborg und ich waren das Ergebnis seiner zweiten, seiner Wiesbadener Ehe.
Die Eheleute, mein Vater und meine Mutter Elisabeth, geborene Sander, hatten sich 1935 kennengelernt. Meine Mutter und mein Paderborner Großvater wollten einen Opel ab Werk übernehmen und übernachteten deswegen in Wiesbaden im Hotel meiner Großmutter.
Geheiratet wurde 1936 und die Ehe lief so la-la. Nach einem Ehestreit meldete sich mein Vater zur Wehrmacht. Meine Mutter hat diesen Ehestreit bis zu ihrem letzten Tag bedauert; der einzige Trost war, dass mein Vater auch eingezogen worden wäre, hätte er sich nicht gemeldet. Das Reich konnte auf Reiseleiter wie auf Finanzamtsangestellte verzichten, brauchte aber viele Soldaten.
Sein Wehrpass besteht in der Hauptsache aus einer Aneinanderreihung von dünnen, dürren Bemerkungen wie: »Schlacht bei Maastricht, Erzwingung des Maas-Übergangs«.
Erst, als ich diese Angaben mit Fakten und Bildern anreicherte, wurde mir klar, welches Schicksal mein Vater erlitten hatte: Schlechter hätte er es nicht treffen können!
Es fing damit an, dass man ihn in der Woche vor Weihnachten ’39 zur Grundausbildung nach Sieradz im Warthegau verfrachtete, rund 800 Kilometer von Wiesbaden entfernt. Dieser Ort war damals, wie der ganze Warthegau (benannt nach der Warthe, die einmal quer durchs Land fließt), erst seit einigen Monaten deutsch. Er war wie das übrige Polen im sogenannten Polenfeldzug erobert worden. Die Stadt war ausschließlich von Polen bewohnt, jeder Deutsche war ein Feind; Frohe Weihnachten also.
Sieradz wurde bald in Schieratz umbenannt und sollte für alle Zeiten deutsch werden. Oder, wie es einer der Vordenker formulierte: »Wir müssen den Osten als eine unzerstörbare Einheit von Volkstum und Landschaft, von Heimat und Rasse zusammenfügen.«
Bedeutete in der Praxis: Die SS trieb 100 000 Juden und 200 000 Polen aus dem Warthegau ins nahe gelegene sogenannte Generalgouvernement; für den Warthegau waren deutsche Siedler vorgesehen, vor allem Deutsch-Balten.
Der Zweite Weltkrieg lief sehr merkwürdig ab. Nach dem Polenfeldzug im Herbst 1939 passierte erst mal – nichts. Obwohl England und Frankreich dem Deutschen Reich am 3. September ‘39 den Krieg erklärt hatten, hielten sie die Füße still. Hitler seinerseits hatte lange keinen Plan, dem er vertraute. Der Generalstabsoffizier Erich von Manstein hatte zwar einen riskanten Operationsplan ausgearbeitet; das Oberkommando legte ihn aber Hitler nicht vor. Der Manstein-Plan empfahl, zunächst Belgien, die Niederlande sowie Luxemburg zu überrennen und dann mit Panzern durch die Ardennen vorzustoßen. Auf diese Weise wollte Manstein in den Rücken der Franzosen gelangen. Das Riskante an dem Plan war, dass die Ardennen dicht bewaldet waren und es keine Straßen für motorisierte Verbände gab. Wie sollten also schwere Panzer da durchkommen?
Das Oberkommando hielt, wie bemerkt, absolut nichts von der Idee; man versuchte sogar, Manstein loszuwerden. Hitler war im Gegensatz zu seinen Generalen von Mansteins Ideen begeistert, als man sie ihm sozusagen am Generalstab vorbei zur Kenntnis brachte. So wurde es dann gemacht. Am 10. Mai 1940 begann der sogenannte Westfeldzug nach der Vorstellung des General Manstein; er wurde zu einem deutschen Triumph und wird heute an allen Militärakademien studiert.
Für meinen Vater hieß das laut Wehrpass: »Schlacht bei Maastricht«, »Erzwingung des Maas-Übergangs«, »Schlacht in Flandern«, »Schlacht an der Schelde«, »Schlacht in Frankreich«, »Vorstoß auf Verdun und Paris.«
Am 22. Juni 1940 kapitulierte Frankreich, und für meinen Vater Alfred Schreeb war damit der Westfeldzug ohne Verletzung oder Verwundung überstanden.
Es folgte eine ruhige, letzte Phase: Besatzungssoldat in Südfrankreich, Küstenschutz an der französischen Atlantikküste, dann, ab dem 26. 7. 1940, Küstenschutz an der französischen Kanalküste.
Das war die Zeit, in der sich (wenn man den entsprechenden Spielfilmen trauen darf) die deutschen Soldaten hübsche Französinnen auf Fahrrädern anlachten und es reihenweise zu entsprechenden Dramen und Komödien kam. Tatsächlich wurde zu der Zeit mit deutschem Geld und auf Befehl von Goebbels in Paris eine deutsch-französische Filmproduktion aufgebaut, die Continental, zeitweise die größte Filmfirma in Europa.
1941 war, so oder so, Schluss mit der Idylle. Mein Vater wurde Infanterist im Osten. Laut Wehrpass kämpfte er mit in der Doppelschlacht bei Bialystok und Minsk.
Da schlossen am 26. Juni 1941 deutsche Panzerverbände zusammen mit nachrückenden Infanteriedivisionen zwischen Bialystok und der weißrussischen Hauptstadt Minsk zwei Kessel um vier sowjetische Armeen mit zusammen 43 Divisionen. Die deutschen Panzervorstöße erfolgten auf kaum befestigten Straßen; Motorschäden durch Sandstaub überstiegen die Ausfälle durch gegnerische Treffer. Den schnellen Einheiten folgte die Infanterie in Gewaltmärschen. Sie hatte den Auftrag, den von den Panzertruppen gebildeten Ring zu verstärken und Widerstand zu brechen.
Es gelang.
Anfang Oktober 1941 wurde dann die Doppelschlacht von Wjasma und Bryansk geschlagen, wieder unter Beteiligung meines Vaters.
Die Doppelschlacht begann unter dem Decknamen Unternehmen Taifun mit dem Angriff der deutschen Heeresgruppe Mitte gegen die sowjetische West-, Reserve- und Brjansker Front. Ziel der deutschen Offensive war die Zerschlagung der Verbände der Roten Armee vor Moskau und anschließend die Eroberung der Stadt selbst. Trotz anfänglicher Erfolge der Wehrmacht lief sich der Vorstoß endlich im herbstlichen Schlamm und dem sich verstärkenden sowjetischen Widerstand fest. Erst mit dem Einsetzen von Frostwetter konnte die deutsche Armee erneut zur Offensive übergehen, und so die Schlacht um Moskau eröffnen.
Im Wehrpass meines Vaters heißt es dazu: »16. 10. 41 Durchbruch durch die Wolga« und für den 5. Dezember ist vermerkt: »Vorstoß gegen Moskau und Woronesch«.
Mein Vater gehörte also zu den deutschen Soldaten, die schlecht ausgerüstet, wie sie waren, Moskau erobern sollten und so den Krieg siegreich beenden. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die hier eingesetzten deutschen Truppen heldenhaft kämpften. Ihre Offensive scheiterte dennoch, am Wetter, an der fehlenden Ausrüstung, der Verpflegung, am sowjetischen Widerstand. Am 15. Januar 1942 musste Hitler den Befehl zum Rückzug geben.
Damit war der Mythos von der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht zerstört. Jeder, der die geringsten Geschichtskenntnisse hatte, dachte bei dieser Niederlage vor Moskau an Napoleon und sein schmähliches Ende.
Ich weiß nicht, was sich mein Vater bei allem dachte. War er auf Hitlers Seite? Wollte er den deutschen Sieg? War er ein Fanatiker?
Es gibt keinen Feldpostbrief von ihm, kein einziges Foto aus fünf Jahren Krieg. Er war nie verwundet, verbrachte keinen Tag im Lazarett, räumte umgekehrt aber auch kein Maschinengewehrnest aus oder warf sich in tollkühner Manier vor einen Panzer, die Handgranate abzugsbereit. Ich glaube nicht, dass er ein Hundertprozentiger war; das liegt erstens nicht in der Natur unserer Familie und zweitens rührt die einzige Strafe, die er während des ganzen Kriegs erhielt, von einer Auseinandersetzung mit einem Offizier her. Diese Strafe handelte er sich ein, weil er beim Heimaturlaub nicht vorschriftsmäßig grüßte und sich anschließend auf ein Wortgefecht mit dem Offizier einließ. Das war allerdings 1943, nach Stalingrad; da war die Moral bei den meisten kämpfenden Soldaten sowieso bereits im Keller.
Aber erst mal musste er das grauenhafte Jahr 1942 überstehen und die Kämpfe um Belyi.
Die kleine Stadt liegt an der Mündung der Obschain in die Mescha, einen Nebenfluss der Düna, und am Westrand der Höhen von Belyj. Die nächstgelegene Bahnstation ist das 50 Kilometer entfernte Nelidowo an der Strecke Moskau-Riga.
Die Kämpfe bei Belyj sind Teil der Schlachten um Rschew. Bei den Russen sind diese Schlachten als »Fleischwolf von Rschew« bekannt. Rschew selbst ist eine Stadt am Oberlauf der Wolga, etwa 200 km vor Moskau gelegen. Und was die Schlacht angeht: Sie gilt als die verlustreichste des gesamten Zweiten Weltkrieges. Die Verluste werden auf über 1,2 Millionen Menschen geschätzt, Tote über Tote auf beiden Seiten. Und doch haben es die Schlachten um Rschew nicht ins kollektive Gedächtnis geschafft. Von den Deutschen wurde die endlos lange Schlacht – sie dauerte über viele Monate – regelrecht vergessen, rutschte irgendwie durch, zwischen der Niederlage vor Moskau und der Katastrophe von Stalingrad. Die Russen kehrten Rschew unter den Teppich, weil ihre Armeeführung sich katastrophaler Fehler schuldig gemacht hatte, denen Hunderttausende von Rotarmisten zum Opfer fielen.
Im Wehrpass meines Vaters lautet die entsprechende Passage nur »Bis 24. 11. Abwehrschlacht im Raum um Rshew«.
Und von nun an werden die Eintragungen im Wehrpass noch lakonischer und noch seltener: »25.11. bis 15. 12. 42 Winterschlacht um den Block der 9. Armee«, dann im Jahr 1943: »6. 12. 42 bis 4. 3. 43 Abwehrkämpfe südl. Rshew« und ganz pauschal: »Abwehrkämpfe im Rahmen der 9. und 2. Armee.«
Für das Jahr 1944 findet sich nur noch eine Zeile im Wehrpass: »27. 8. 43 bis 7. 2. 44 Abwehrkämpfe im Rahmen der 9. und 2. Armee.«
Über den 26. Juni 1944 habe ich bereits alles Wesentliche gesagt.
2015 haben meine Frau und ich eine Reise durch Weißrussland unternommen; vor allem wohl, weil ich das Schlachtfeld sehen wollte, wo mein Vater umgekommen war. Bobruisk, etwa zwei Autostunden von Minsk entfernt, ist eine der ältesten Städte von Belarus, heute eine Industriestadt mit rund 220 000 Einwohnern. Trotz einiger Sehenswürdigkeiten aus früheren Jahrhunderten sieht sie aus wie eine beliebige Stadt aus der Sowjetzeit; an den Krieg erinnert nichts. Es gibt einen Flußhafen; im Sommer sind auf der recht breiten Beresina Ausflugsschiffe unterwegs, und wenn man Glück hat, erfährt man, dass Bobruisk vor dem Ersten Weltkrieg vor allem eine jüdische Stadt war. Selbst zu Beginn der Sowjet-Zeit hatte der Ort noch seinen jüdischen Charakter. Verschiedene Verleger druckten hier bis 1928 jüdische Gebetbücher und andere religiöse Publikationen; das letzte in der Sowjetunion veröffentlichte Werk jüdischer religiöser Literatur, die Yagdil Thora, wurde in Bobruisk gedruckt. Heute müssen sich die wenigen Juden der Stadt mehr oder minder verstecken.
Unsere Übersetzerin brachte uns zu einem der vielen Plätze im Westen von Bobruisk, wo 1944 so verbissen gekämpft worden war. Wir fuhren durch einen sehr dunklen Wald, dann eine lange einsame Straße entlang, die von verfallenen und zerfallenden Holzhäusern gesäumt war, und kamen endlich zu einem Obelisken, der an die Helden auf sowjetischer Seite erinnerte – ein riesiger Pfeiler aus Stein mit dem Sowjetstern an seiner Spitze; am Fuß die für russische Kriegerfriedhöfe üblichen Plastikblumen und Plastikkränze. Hinter dem Denkmal gab es eine sanft ansteigende Wiese. Soweit das Auge reichte, war kein Mensch, kein Haus, nicht einmal ein Tier zu sehen, nur friedliche Landschaft. Und hier oder ein paar Kilometer entfernt, war mein Vater umgekommen.
Am nächsten Tag waren meine Frau und ich durch einen schlichten Zufall im Historischen Museum von Minsk; eigentlich wollten wir das Kunstmuseum besuchen, es war aber an diesem Tag geschlossen. Also gut, dann eben das Historische Museum.
Hier hatte ich ein erschreckendes Erlebnis. Im ersten Stock gingen wir an Fundstücken der Grande Armée von 1812 vorbei; selbst ein Hut Napoleons war ausgestellt. Dann, im nächsten Raum der Schock: Hier wurde die Schlacht von Bobruisk erzählt. Auf einer von der Decke herunterhängenden Filmleinwand liefen als Dauerschleifen Aufnahmen russischer Kameraleute: Piloten in Kampfflugzeugen, die sich auf die längst wehrlosen deutschen Soldaten am Boden stürzen und sie eliminieren, russische Panzer, die deutsche Bodentruppen überrollen und so weiter und so weiter und alles überdröhnt von typischem Gefechtslärm und heroischer Musik.
Es kam mir vor, als säße ich auf dem Boden neben meinem Vater und wir warteten auf unseren Tod.