Wiesbadener Tagblatt: Aus der Serie: ›Zweitausend Jahre Rheinschifffahrt‹:

Artikel

4. Folge

Flöße

So lange Menschen am Rhein lebten, so lange transportierten sie Waren auf dem Strom. Schon die Römer kannten ›Schwerlasttransporte‹, etwa die gewaltigen Steinblöcke, die aus den Steinbrüchen des Odenwalds geholt wurden. Aus ihnen wurden Garnisonen, Landgüter und Städte, Mainz und Wiesbaden zum Beispiel.

Im Mittelalter verschiffte man erneut große Mengen von Baumaterial auf dem Rhein. Dieses Mal für die großen romanischen und gotischen Dome, für wehrhafte Stadtmauern und repräsentative Rathäuser.

Das Bauholz schwamm alleine. Beziehungsweise in Form von Flößen.

Seit dem 13. Jahrhundert gab es ständig größer werdende Flöße auf dem Rhein. Zum Großteil schwammen da Eichen und Tannen aus dem Schwarzwald, die beliebtesten Hölzer. Auch die Schwarzwald-Flößer genossen besonderes Ansehen, besaßen sie doch spezielle Kenntnisse und Erfahrungen in der Führung von Flößen.

Die Schwierigkeiten begannen schon bei der Zusammenstellung von Holzqualitäten. Eichenholz allein war nicht schwimmfähig, da zu schwer, und musste mit Tannenholz in genau dosierter Weise gemischt werden. Die eigentlichen Probleme kamen aber bei der Fahrt der Flöße. Die Großflöße des 17. und 18. Jahrhunderts brauchten allein für die Steuerung an die fünfhundert Mann. Heute ist schwer zu verstehen, dass die Ungetüme mit den vergleichsweise bescheidenen Hilfsmitteln von damals überhaupt ans Ziel gelangten.

Am Ende des 17. Jahrhunderts erlebten die Niederlande einen wirtschaftlichen Boom, der alles Bekannte übertraf. Der Holzbedarf der Holländer schien jetzt unersättlich. Für alles wurde Holz gebraucht: Für die Fundamente neuer Städte – ganz Amsterdam ist auf Pfählen gebaut wie Venedig –, für neue Deiche, für den Mühlen- und Schiffsbau.

Die größten Flöße dieser Zeit waren über tausend Fuß lang, also über 300 Meter lang, und mehr als 50 Meter breit. Die Oberfläche eines großen Holländer-Floßes war so groß wie heute vierundvierzig Tennisplätze, 11 500 Quadratmeter! Die Kolosse bestanden aus drei, oft aus fünf Lagen Baumstämmen, und sie zu steuern war eine hohe Kunst. Genau so überdimensional war die Besatzung – 600, 700 Mann. Die Flöße hatten Gelenke, damit sie die Kurven im Fluss bewältigen konnten. Wenn Anker geworfen wurden, mussten ihre Seile mit Wasser übergossen werden, damit sie nicht durch die Reibungshitze Feuer fingen.

In der Mitte des Floßes standen die Hütten für Meister- und Ankerknechte sowie für ungelernte Arbeiter. Der Kapitän (auch ›Floßmeister‹ genannt) bewohnte die ›Herrenhütte‹. Sein Haus maß bis zu hundert Quadratmeter. Es handelte sich um ein zerlegbares Fertighaus mit Fenstern und Türen, mehreren Zimmern (unter anderem für die Buchhaltung), separater Küche und einer kleinen Veranda. Am Ende der Reise wurde die ›Herrenhüte‹ auseinander genommen und für den nächsten Einsatz in Einzelteile wieder in den Schwarzwald oder den Spessart geschafft.

Im Jahr 1789 schwärmte der Koblenzer Pfarrer Joseph Gregor Lang über die Flöße auf dem Rhein: »Unter allen großen und kühnen Unternehmungen, wozu die Auri sacra Fames, die Geldgier, den Menschen antrieb, kenn' ich keine, die bedeutender und bewundernswürdiger ist, als der Bau und die Behandlung einer solchen ungeheuren daher sich bewegenden Maschine, dessen man sich auf dem Rhein vorzüglich vor allen andern Flüssen in Europa, und vielleicht in der ganzen Welt zum Holzhandel bedienet ...«

Derartige Mengen an Holz konnten natürlich nur von kapitalkräftigen Handelsunternehmen eingekauft und in Marsch gesetzt werden. 1785 beschloss ein gewisser Joseph Schmitz, sich an einer solchen Floßfahrt zu beteiligen. Er führte Tagebuch, und so erfährt man von ihm aus erster Hand, was alles kostete.

Er behauptet, sein Floßherr habe allein hunderttausend Gulden Kredit aufgenommen, um sein Riesenfloß nach Dordrecht zu bringen.

Er notierte auch, dass viele Leute an Bord vor Antritt der Fahrt ihr Testament machten – so gefahrvoll war eine solche Reise.

Mitte März 1785 sollte die Fahrt endlich losgehen. Originalton Joseph Schmitz: »Am Morgen hatte jeder seine Stelle auf dem Floß eingenommen. Der Obermeisterknecht, ein würdiger Greis von siebzig Jahren, ging nun zu den Streichen, besah das Volk, nahm eine förmliche Musterung vor und wies einige wieder ab. Nach diesem hielt er in Rücksicht auf gute Mannschaft, Manneszucht und Disziplin eine bündige Ansprache an das gemeine Volk, worin er den vereinbarten Lohn, fünf Reichstaler und gewöhnliche Koste, bekannt gab. Wem dies nicht zustünde, der könne abtreten. Es blieben aber alle, und der Kontrakt war geschlossen. Auf diese Handlung hörte ich das Wort Backholz überall. Der Koch hatte zum Zeichen, dass das Essen fertig war, einen Korb auf eine hohe Stange hinausgesteckt. Das Volk kam von allen Seiten mit einer Menge Zubern, welche man Backe nennt, zur Küche, wo sie mit Fleischbrühe und untergemischtem Dörrgemüse angefüllt wurden, für jede Streiche von sieben Mann eine Back und dann an der Proviantausgabe noch eine gute Portion Käse und Brot, welches sie alle unter dem Arm forttrugen. Die Meisterknechte aßen in ihren Hütten, das gemeine Volk setzte sich um die Backe herum und aß mit Holzlöffeln. Danach wurde ohne Bestimmung des Maßes Bier in die Backe nach Durst und Lust verzapft. Drei bis vier Köche haben den ganzen Tag zu tun, um alle Mäuler zu stopfen. Der Meisterkoch kocht nur für die Herrenhütte und besorgt die Ausgabe des Proviants. Mehrere Helfer und zwei Metzger haben den ganzen Tag zu tun. jeder Tag kostet einen Ochsen das Leben. Im Stall stehen immer fünf bis sieben Ochsen. In der Provianthütte ist für eine Reise fünfzigtausend Pfund Brot, zwanzigtausend Pfund Fleisch, circa fünfzehn Zentner Butter, zehn Zentner Dörrfleisch, vierzig Malter Hülsenfrüchte, zehn Malter Salz, sechshundert Ohm Bier, drei bis vier Stückfaß Wein für das gemeine Volk, außerdem noch Spezereien.«

Sowohl am Ober- als auch am Niederrhein erlangte die Flößerei für einige Orte große wirtschaftliche Bedeutung. Mannheim, Mainz, Kostheim und das nassauische Biebrich verfügten über Holzhäfen, in denen Holzlieferungen von den verschiedenen Nebenflüssen zusammentrafen. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts ging die Zeit der Großflöße zu Ende. Neue Zollbestimmungen, weitere Schiffsbrücken und schließlich auch zunehmender Schiffsverkehr zwangen zur Aufgabe dieser risikoreichen Transportform.

Dennoch: Kostheim war noch lange ein bedeutender Floßhafen. Ab 1859 wurde der neue Schiersteiner Hafen auch Floßhafen. Noch in den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts war der Anblick von Floßholztransporten auf dem Rhein ein gewohntes Bild. Für viele Anwohner war es sogar ein beliebter Sport, die Flöße beim Baden im Rhein für eine kurze Verschnaufpause zu nutzen! Mitte der Fünfziger Jahre, Anfang der Sechziger Jahre gaben dann die Flößermeister nach und nach ihr Gewerbe auf. Das letzte Floß passierte Biebrich im November 1968.

Aus der Serie ›Herzog Wilhelm von Nassau‹

7. Folge

Die Italienische Reise

1822 unternahm Herzog Wilhelm von Nassau seine große ›Italienische Reise‹, wie sie damals für jeden Mann von Welt ein Muss war. Deutsche nahmen sich dabei gern Goethes Italienreise zum Vorbild, und daran gemessen, fiel die italienische Reise des Herzogs recht eigenwillig aus.

Zu der Zeit war Herzog Wilhelm knapp dreißig, verheiratet und mehrfacher Vater, und seit sechs Jahren der Souverän in Nassau. Ursprünglich reiste er nach Wien, teils um die Familie zu sehen, teils um mit Kaiser Franz I. und dessen trickreichen Haus-, Hof- und Staatskanzler Metternich zu konferieren. Österreich war Vormacht im ›Deutschen Bund‹. So war es für den Herzog sozusagen Amtspflicht, sich immer mal wieder in Wien blicken zu lassen.

Seit dem rätselhaften Tod ihres Mannes lebte die Mutter des Herzogs in Wien und feierte zu der Zeit gerade ihren fünfzigsten Geburtstag. Wien war seit einigen Jahren auch Heimat von Wilhelms Schwester Henriette, Prinzessin zu Nassau. Sie hatte 1815 Erzherzog Karl von Österreich geheiratet, den ›Sieger von Aspern‹. Und Wilhelms Bruder Prinz Friedrich zu Nassau hielt sich ebenfalls hier auf. Er stand ›in österreichischen Militärdiensten‹, wie das damals formuliert wurde.

Pierre Even, Rechtsanwalt und Hobbyhistoriker, hat alle Details der herzoglichen Reise nach Wien und Italien untersucht. In seiner Broschüre ›Die italienische Reise des Herzogs Wilhelm zu Nassau im Jahre 1822‹ erklärt er: »Wann und wo der Entschluss des Herzogs zu einer Italienreise fiel, ist nicht bekannt.« Even meint, vielleicht habe es sich um eine spontane Entscheidung gehandelt nach dem Motto: Wenn wir schon mal hier sind...

Jedenfalls begann die Italienreise am 23. Mai, morgens zwei Uhr. Mit dem Herzog reiste anfangs sein Bruder Friedrich. »Weitere Reisebegleiter werden im Tagebuch nicht erwähnt, jedoch nennt die Schatullrechnung des herzoglichen Hofes als Begleiter des Herzogs auf der Reise nach Wien und Italien den Major Anton Freiherr von Breidbach Bürresheim. Der Major war Kammerherr, Major à la Suite, Flügeladjutant und Reisestallmeister. Es ist davon auszugehen, dass der Herzog weiterhin einen Kammerdiener mitgenommen hat.« Vermutlich reiste Herzog Wilhelm, um jeden unnötigen Aufwand zu vermeiden, inkognito, möglicherweise unter dem Namen eines Grafen von Rheinau, »den er nur dann ablegte, wenn er an einem der fremden Höfe aufwartete.«

Die normale Durchschnittsgeschwindigkeit der Postkutsche lag bei zehn Kilometer in der Stunde; entsprechend waren die Reiseziele nur schwer (und für viel Geld) zu erreichen. Herzog Wilhelm jagte jedoch durch Italien, als wollte er einen neuen Reiserekord aufstellen. Tage und nächtelang saß er in der Postkutsche. Beispielsweise gönnte er sich erst fünf Tage nach Abfahrt – da war man in Desenzano am Gardasee – zum ersten Mal wieder ein Bett. Das Tempo hielt er im Prinzip während der ganzen Reise bei, und das bei den schlechten Straßen.

Bei seiner Tag- und Nachtfahrerei entgingen dem Herzog, wie er selbst bedauerte, verschiedene sehenswerte Städte und Landschaften. Aber selbst wenn er anhielt, musste alles hopp-hopp gehen. Die Sehenswürdigkeiten wurden meistens in Eile ›abgearbeitet‹. Für manche Städte blieben ihm nur einige Stunden. Für die wirklichen Attraktionen ließ sich Herzog Wilhelm allerdings mehrere Tage Zeit. Jedoch: »Zwischen den anstrengenden Besichtigungen der Städte war er auch etwas erschöpft, so dass er gelegentlich einen interessanten Ort verschlief.«

Generell stand der Herzog früh auf, um das Tageslicht voll auszunutzen, und nahm es andererseits in Kauf, erst spät in der Nacht ein Etappenziel zu erreichen. Als er in Florenz ankam, hatte er sich schon so ans Tempo gewöhnt, dass es ihm von hier nach Rom oder Neapel nicht mehr weit zu sein schien. In vierzig bzw. sechzig Stunden wollte er dort sein, und schaffte das auch so einigermaßen.

Auch die Rückreise wurde im Höllentempo absolviert, beinahe so, als würde er gejagt. Insgesamt umfasste die Reiseroute von Herzog Wilhelm eine Strecke von etwa 4 500 Kilometer und wurde in zwei Monaten absolviert.

Auf seiner Reise traf der Herzog mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten zusammen. Unter anderem machte er dem greisen Papst Pius VII. seine Aufwartung, dem Großherzog Ferdinand III. von Toscana, und dem derben, faulen König Ferdinand I., König beider Sizilien. Für dessen zweite, ›zur linken Hand getraute‹ Gemahlin Donna Lucia hatte er beißende Bemerkungen parat. Er kam aber auch mit Staatsmännern und Diplomaten zusammen, gelegentlich auch mit Künstlern.

Herzog Wilhelm sah sich sowohl in den weltberühmten Gemäldegalerien wie in den Ateliers von damals geschätzten Malern um. Seine besondere Aufmerksamkeit galt den gerade in Mode stehenden Nazarenern und klassizistischen Bildhauern. Über sie und ihre Werke war er recht gut informiert und urteilte oft mit Kennerblick.

Die Kosten der Reise nach Wien und nach Italien betrugen exakt 23 727 Gulden und 50 Kreuzer. Wenn man weiß, dass der dirigierende Staatsminister im Jahr 1822 siebentausend Gulden verdiente und ein Tagelöhner auf etwa 140 Gulden im Jahr kam, kann man sich vorstellen, dass sich nur wenige Auserwählte solche Vergnügen leisten konnten. »Gleichwohl im Verhältnis zu anderen Auslandsreisen des Herzogs - war die Italienreise, da sie keine außerordentlichen repräsentativen Verpflichtungen mit sich brachte, nicht besonders kostspielig. Im Herbst 1835 reiste Herzog Wilhelm nach St. Petersburg an den Zarenhof, wollte der dortigen Prachtentfaltung sicher nicht nachstehen und ließ sich diese Reise die stattliche Summe von 54 056 Gulden kosten. Auch die Reise nach London zur Krönung der Königin Victoria im Jahre 1838, in Begleitung seiner Söhne, des Erbprinzen Adolph und des Prinzen Moritz, verursachte Kosten von immerhin 33 782 Gulden.«

Aus der Serie ›Die Germania auf dem Niederwald‹

5. Folge

Woran das Leben hängt

Der 28. September 1883, der Tag, an dem das Niederwald-Denkmal in Rüdesheim mit einem großen Staatsakt eingeweiht werden sollte, fing nieselig an. Mittags kam immer mal die Sonne raus. Ansonsten war der Himmel grau.

Das Wetter konnte die allgemeine Euphorie jedoch nicht beeinträchtigen.

An diesem Tag waren in dem Rheingauort die Spitzen des 1871 ins Leben gerufenen Deutschen Reiches versammelt: Könige, Großherzöge, Herzöge, Fürsten, die Chefs von Armee und Marine, die Oberbürgermeister der großen Städte, Reichstagsabgeordnete. Kaiser Wilhelm I. hatte zum Beispiel alle 133 Persönlichkeiten einladen lassen, die auf dem Fries des Denkmals verewigt waren. Die meisten von ihnen waren gekommen. Und natürlich immer die dazugehörigen Damen.

Um zehn Uhr traf Kaiser Wilhelm I. »mit seinen Paladinen im aufs Prächtigste geschmückten Rüdesheim ein«, wie die Zeitungen festhielten. Er kam mit einem Salonzug aus Wiesbaden.

Zu der Zeit lagen bereits zahlreiche große Rheindampfer am Rüdesheimer Ufer, andere waren auf dem Weg dorthin. Insgesamt bildeten später dreißig Luxusdampfer und zahlreiche kleine, ebenfalls bunt dekorierte Boote eine regelrechte Schiffsparade.

In einer langen Reihe von Kutschen – insgesamt 112 Wagen – fuhren die hohen und höchsten Herrschaften hinauf zum Niederwald. Dabei fuhren sie auch über dreizehn Pfund Dynamit, die Anarchisten aus Elberfeld in Drainageröhren deponiert hatten.

Reinhold Rupsch und Emil Küchler, zwei der Attentäter, die fest entschlossen waren, den greisen Kaiser (geboren am 22. März 1797) und die ihn begleitenden Repräsentanten in die Luft zu sprengen, hatten sich schon in aller Frühe auf den Weg gemacht. Rupsch stand auf Posten, gab Küchler auch das verabredete Zeichen, als sich der Festzug dem Dynamitpaket im Drainagerohr auf fünfzig Meter genähert hatte. Küchler versuchte dann mehrfach, die Zündschnur anzustecken – es gelang einfach nicht. Bei der Rückfahrt der hohen Herrschaften versuchten es die Beiden nochmals. Jetzt brannte die Schnur zwar, ging jedoch auf halben Weg wieder aus. Die Elberfelder Anarchisten hatten buchstäblich mit jedem Pfennig rechnen müssen. Deswegen hatten sie statt der wasserfesten Lunte zu 75 Pfennigen die billigere aus Hanf zu 40 Pfennig genommen. Wegen des Regens in der Nacht und am Vortag war sie feucht geworden und verweigerte deshalb ihren Dienst.

August Reinsdorf (der eigentliche Kopf der Elberfelder Gruppe; er hatte den Anschlag lange und sorgfältig ausgeheckt) hatte den Helden ausdrücklich befohlen, nicht an den Zündschnüren zu sparen. Beim Attentat selbst konnte er nicht mitmachen, weil er mit gebrochenem Bein im Krankenhaus lag. Später beim Prozess äußerte er sich mit Verachtung über seine Genossen: »Mit solchem Menschenmaterial musste ich nun arbeiten«.

Kaiser Wilhelm I. überlebte jedenfalls auch den vierten Anschlag auf sein Leben, bemerkte ihn nicht einmal. Die Herrschaften kamen heil auf den Niederwald und nachher wieder unversehrt hinunter. Oben fand eine Feier statt, die war, wie solche Feiern immer sind: Alle am großen Werk Beteiligen (einschließlich der Bauleute) waren versammelt, dazu die Ehrengäste. Die Herren entweder in Paradeuniform oder in ›Frackrock und Cylinder‹, die Damen in eleganter Salontoilette. Unter den Ehrenjungfrauen auch Fräulein Marie Hey’l, die Tochter des Wiesbadener Kurdirektors Ferdinand Hey’l, der die Anregung zum Bau des Denkmals gegeben (und Karriere gemacht) hatte. Anwesend auch Landrat Fonck und der Generalkonsul von Lade, zwei der wichtigsten Akteure in der Geschichte des Denkmalbaus.

Ansonsten: Wohin man blickte deutsche Krieger, deutsche Turner, deutsche Sänger, keine Unbefugten. Die Leib-Kompanie des 1. Garde-Regiments zu Fuß aus Potsdam sperrte den Festplatz ›hermetisch ab‹. Dann wurde gesungen und geredet. Jemand verglich die Einweihungsfeier mit einer gewaltigen Opernszene Richard Wagners: »Das war die in die Wirklichkeit umgesetzte Festwiese aus den ›Meistersingern‹.« Graf Eulenburg hielt die eigentliche Festansprache und küsste nachher dem Kaiser gerührt die Hand. Dann der Augenblick der Enthüllung, Peter Joseph König aus Assmannshausen lässt den im Winde flatternden Vorhang los, der bis dahin einen Teil des Denkmals verdeckt hatte. Kaiser Wilhelm will einige Worte sprechen, da geht vorzeitig ein Böllerschuss los, im Tal beginnt Kanonendonner und Glockenläuten. Auch auf den Dampfern wird Salut geschossen und zwar derart stark, dass die Schiffe im Pulverdampf verschwinden. Die Musik auf allen Schiffen in dieser Minute: ›Die Wacht am Rhein‹.

Der Lärm ist derartig, dass man die Worte des Kaisers nicht mehr verstehen kann. Der alte Mann lässt sich nicht beirren, redet gegen den Lärm an. In ›Harms Vaterländischer Erdkunde‹ von 1906 ist zu lesen, er habe gesagt: »Den Gefallenen zum Gedächtnis, den Lebenden zur Anerkennung, den kommenden Geschlechtern zur Nacheiferung! Das walte Gott!«

Reinhold Rupsch und Emil Küchler, die beiden unglücklichen Anarchisten, holten in der einbrechenden Dunkelheit das Dynamitpaket aus dem Versteck. Ein dritter Genosse namens Bachmann warf es dann gegen den Küchenanbau der provisorischen Festhalle. Damit richtete er nur begrenzt Schaden an. Einige Flaschen gingen zu Bruch, zwei Männer wurden durch die Explosionswelle zu Boden geworfen und »der wunderschöne Kalbsnierenbraten ungenießbar gemacht«, wie ein Zeuge notierte.

Monate später fielen die Elberfelder Anarchisten durch ihre Redseligkeit auf.

August Reinsdorf, der Anführer der Truppe, bekannte sich vor Gericht zu seiner Verantwortung und zum Anarchismus: »Die Motive, die mich dazu bewegten, Rupsch nach Rüdesheim zu senden, waren folgende: Die neue Ära in Preußen und Deutschland, die auch ›die glorreiche‹ genannt wird, soll das deutsche Volk befriedigt haben. Es sei frei und glücklich und für fremde Nationen ein Vorbild geworden. Alles dies in seinen tausendfachen Variationen ist für den Arbeiter eine Illusion geblieben, eine Unwahrheit. Die Arbeiter bauen Paläste und wohnen in armseligen Hütten; sie erzeugen Alles und erhalten die ganze Staatsmaschine, und doch wird für sie nichts gethan; sie erzeugen alle Industrieprodukte, und doch haben sie wenig und schlecht zu essen; sie sind eine stets verachtete, rohe und abergläubische Masse voll Knechtsinns. Alles, was der Staat thut, hat allein die Tendenz, diese Verhältnisse ewig aufrecht zu erhalten. Die oberen Zehntausend sollen sich auf den Schultern der großen Masse erhalten. Soll dies wirklich ewig dauern? Ist eine Änderung nicht unsere Pflicht? Sollen wir ewig die Hände in den Schoß legen?«

August Reinsdorf, Reinhold Rupsch und Emil Küchler wurden zum Tode verurteilt. August Reinsdorf und Emil Küchler wurden am 7. Februar 1885 im so genannten ›Roten Ochsen‹ zu Halle hingerichtet, einer ›Königlich-Preußischen Straf-, Lern- und Besserungsanstalt‹. Rupsch wurde wegen seines Alters zu lebenslänglichem Zuchthaus ›begnadigt‹. Reinsdorf starb mit den Worten: »Nieder mit der Barbarei! Es lebe die Anarchie!«