Wiesbadener Tagblatt: 1896, Auf allerhöchsten Befehl

Artikel

Die ersten Wiesbadener Festspiele

Von Hans Dieter Schreeb

Heutzutage sind Festspiele so selbstverständlich, dass man sich schwer vorstellen kann, dass es auch mal Sommer ohne Festivals gab.

Richard Wagner war der Erste, der einmal im Jahr Festspiele veranstaltete – Opernaufführungen von überragendem Niveau und außerhalb des Gewohnten. Die Idee und der Erfolg überzeugten so, dass der Wiesbadener Intendant Georg von Hülsen, seit 1893 Intendant des Königlichen Theaters zu Wiesbaden, den Gedanken aufgriff. Am 6. Mai 1896 wurden die ersten Wiesbadener Festspiel-Wochen eröffnet, nach Bayreuther Vorbild mit Posaunenschall.

›Festspiele auf allerhöchsten Befehl‹ hieß es auf Plakaten und Programmen und entsprechend wurden die Festwochen bald von der Bevölkerung und der Presse ›Kaiserfestspiele‹ genannt.

Selten traf ein Begriff so genau wie dieser. Kaiser Wilhelm II., ein Gönner der Stadt und des Theaterintendanten von Hülsen, zahlte aus der eigenen Schatulle und nicht wenig, bestimmte aber auch nach eigenem Gusto das Programm. ›Rinnsteinkunst‹ – also alles, was damals neu und wegweisend war – lehnte er ab. Andererseits hatte er sehr genaue Vorstellung, was Theater sein sollte. Es sollte ein Werkzeug des Monarchen sein gleich der Schule und der Universität. »Das Theater ist auch eine Meiner Waffen«, umriss er seine Anschauung von der Sache in einer Rede.

Intendant Georg von Hülsen, 1858 geboren, war Sohn des Generalintendanten der Berliner Königlichen Bühnen, Botho von Hülsen. Nach dem Abitur trat der junge Hülsen ins preußische Heer ein. Ab 1879 war er Offizier des Garde‑Kürassier‑Regiments. Mehr konnte man damals in Deutschland kaum sein oder werden. Zum Generalstab abkommandiert, wurde Hülsen 1889 Adjutant des Kriegsministers. Warum Kaiser Wilhelm seinen Jugendfreund Georg zum Leiter des Wiesbadener Hoftheaters berief, lässt sich heute nicht mehr sagen. Wahrscheinlich hielt er den jungen Mann einfach für fähig.

Und hatte sich darin auch nicht geirrt. Nach allem, was man weiß, war Hülsen ein gebildeter (Zwei-Meter-)Mann, elegant im Auftreten und von bestrickender Liebenswürdigkeit, ein Mensch ›von Charakter und vornehmer Gesinnung‹, wie er von Zeitgenossen beschrieben wurde. Im Laufe seiner zehnjährigen Tätigkeit in Wiesbaden verschaffte Hülsen dem Hoftheater internationalen Ruf. Die Stadt dankte ihm den kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung, den seine Anstrengungen brachten (während den Festspielwochen waren die Hotels überbelegt!) durch die Ehrenbürgerrechte. Auch nach seinem Weggang aus Wiesbaden – er leitete danach die königlichen Berliner Bühnen – behielt Hülsen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die

Oberleitung der Wiesbadener Hofbühne.

Sofort nach Übernahme der Amtsgeschäfte ging Hülsen daran, den gesamten Theaterbetrieb von Grund auf zu reformieren: »Auf der Bühne des Wiesbadener Hoftheaters herrschte eine streng soldatische Disziplin, deren Innehaltung durch besonders dazu angestellte Beamte kontrolliert wurde. Sie trugen Armbinden mit dem Aufdruck ›Bühnenpolizei‹.«

Verboten war zum Beispiel, die Türen laut zuzuschlagen (3 Mark Strafe und mehr) oder auf der Bühne während der Vorstellung ein privates Wort zu sprechen (10 Mark Strafe). Vergehen wurden sofort geahndet und die Art der Bestrafung an der Anschlagtafel am Bühneneingang bekannt gegeben

Trotz der strengen Disziplin wurde Hülsen von seinen Künstlern und Technikern geschätzt. »Er wurde mit den schwierigsten Künstlern, ob sie Schauspieler oder Dirigenten, Sänger oder Regisseure waren, geradezu spielend fertig«, urteilte Eckart von Naso über ihn. Hülsen selbst umriss sein Credo so: »Ein offenes Ohr – ein gleiches Recht für alle. Der letzte Arbeiter ist so gut Mensch wie der erste Künstler; behandle beide gleich vornehm.«

Hülsen bevorzugte im Programm das Repräsentative, geschmackvoll Verschwenderische. Theater bedeutete für ihn die Entfesselung der Phantasie, die Überrumpelung des Zuschauers, die Entfaltung von Massen und Pracht. Alle Voraussetzungen dazu waren gegeben: Das funkelnagelneue Theater – 1894 eingeweiht – besaß die modernste Bühnenmaschinerie. Alle Teile des Bühnenbodens konnten unabhängig voneinander in beliebiger Geschwindigkeit gehoben, versenkt, gedreht oder schräg gestellt werden. Die Möglichkeiten, die Bühne zu verändern, waren damit unbegrenzt. Die hochmodernen technischen Mittel erlaubten es, Bilder zu zaubern, die von den Zeitgenossen als sensationell empfunden wurden.

Die Bühnenbilder wurden mit einer Akkuratesse nach historischen Vorlagen ausgeführt, die heute unbegreiflich ist. Alle Kostüme wurden neu geschneidert; zum ersten Mal mussten die Damen des Wiesbadener Hauses ihre Roben nicht mehr selbst stellen. Schon bei von Hülsens Vorgänger waren praktisch alle zeitgenössischen Musikgrößen aufgetreten – als Gäste und bei Gastspielen. Für die ›Kaiserfestpiele‹ wurden weitere Koryphäen engagiert.

Die eigentliche Attraktion der beiden ersten Festwochen (und aller weiteren) war aber die Anwesenheit des Kaisers selbst.

Seine Majestät geruhten nicht nur, zwei Vorstellungen anzusehen. Er ließ sich sogar bei den Proben blicken; in späteren Jahren entwarf er eigenhändig Kostüme und Bühnenbilder.

Schon die Ankunft von Kaiser Wilhelm, sicher der beste Kaiser-Darsteller aller Zeiten, war prachtvoll inszeniert. Er traf um halb elf Uhr abends mit dem königlichen Sonderzug ein (aus Rom und Wien kommend) und wurde mit Fackelzug zum Stadtschloss geleitet. Die Mitglieder der Kriegervereine, der Turn- und Schützenvereine, auch der Freiwilligen Feuerwehr standen dabei Spalier, Altes und Neues Rathaus waren illuminiert und die Innenstadt aufs Prächtigste dekoriert. Auch die Abreise erfolgte in der Nacht und wieder loderten die Fackeln.

Was Seine Majestät taten und ließen, wurde vom ›Wiesbadener Tagblatt‹ getreulich mitgeteilt: »Seine Majestät ist gestern Nachmittag etwa zwanzig Minuten nach drei Uhr im Rock der Kürassiere mit der weißen Mütze auf einem Grauschimmel aus dem Schloss herausgeritten.« Sechs Adjutanten, ein Stallmeister, eine Stabsordonnanz und zwei Diener begleiteten den Kaiser bei seinem Ausritt. Der Ritt ging durch das Nerotal (es wurde gerade mit viel Geld zu einem Park umgestaltet), den Wolkenbruch und die Platter Strasse hinauf, dann durchs Goldsteintal zurück. Wo er sich sehen lies, wurde der Kaiser mit Jubel begrüßt. Die Kinder hatten schulfrei (sämtliche Schulen!) und in zahlreichen Schaufenstern stand die lorbeergeschmückte Büste des Kaisers inmitten von Blumenarrangements.

Von der Zeitung wurde mitgeteilt, dass der Kaiser die Sonnenberger Straße zweimal durchfahren werde bzw. habe. Einmal, um bei Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin Luise zu speisen, das zweite Mal um bei von Hülsen zu dinieren. Bei der Gelegenheit trugen SM den goldenen Helm des Garde du Corps-Regimentes. Es wurde gebeten, keine Blumen in die Kutsche zu werfen!

Die Festspiele waren da schon im Gang. Sie waren mit Mozarts ›Zauber­flöte‹ eröffnet worden. Um das ägyptische Lokalkolorit zu treffen, hatte man sich für das ungemein eindrucksvolle Bühnenbild an Abbildungen aus dem Ägyptischen Museum in Berlin und an photographische Aufnahmen vom Nil gehalten. Der Auftritt der Königin der Nacht und die Szenen in Sarastros Tempel und in den mondbeglänzten Zaubergärten wurden als ›einmalig‹ empfunden und entsprechend bewundert. Die musikalische Qualität der Aufführung steht außer Frage. Am Pult stand der Dresdner Generalmusikdirektor Ernst von Schuch, einer der ganz Großen seiner Zeit.

Kaiser Wilhelm besuchte eine Aufführung von Wagners ›Fliegendem Hollän­der‹, wiewohl ihm Wagner nicht unbedingt zusagte (die Musik war ihm ›zu laut‹) und ›Theodora‹, ein Schauspiel von Victorien Sardou, an dem Hülsen die technischen Möglichkeiten der neuen Bühne besonders eindrucksvoll demonstrieren konnte. Bezeichnenderweise hatte der Kaiser das Theater schon tagsüber aufgesucht und sich die im Ersten Rang ausgebreiteten Kostüme und Schmuckgegenstände vorführen lassen.

Apropos Schmuck. Das ›Tagblatt‹ teilte seinen Lesern mit, dass Seine Majestät Orden im Werte von einer Million Mark im Besitz habe und auf Reisen Orden im Werte von 600 000 Mk. mitführe; die Kleinodien der Kaiserin hätten dagegen einen Wert von einigen Millionen. Merkwürdig unpassend nimmt sich ein Ausspruch des Oberhofmeisters der Kaiserin, Freiherr von Mirbach, aus, den die Zeitung ebenfalls abdruckte: »Der Luxus und das Wohlleben in allen höheren Kreisen ist der unermesslichen Noth gegenüber zu groß und muss eingeschränkt werden. Was wird nicht bloß an Schmuck und Kleidern unnötig verbraucht! Dieser übertriebene Luxus ist durch nichts zu entschuldigen.«

Nun, die Bemerkung wurde überhört. Im Kurgarten wurden prächtige Gartenfeste und Bälle veranstaltet und bei herrlichstem Frühlingswetter ein Blumencorso. Er wurde von der Zeitung als ›reizend verlaufende‹ Veranstaltung gewürdigt, bei der die hiesige Gesellschaft begeistert mitgemacht habe, an der Spitze »I.K.H Frau Prinzessin Luise mit Hofdame«. Nach der Schilderung der Zeitung saßen die beiden Damen dabei in einem von vier Rappen gezogenen Landauer.

Nicht, dass es damals nichts außer Vergnügungen gegeben habe. Das ›Tagblatt‹ warnte auch vor Menschenhändlerbanden, die junge Mädchen nach Südamerika verschleppten, meldete, dass sich die Hottentotten in Deutsch-Südwestafrika gegen die deutschen Schutztruppen empört hätten (»Der Kaiser nimmt die Sache ernst.«) und dass das Militär im seit 1871 wieder deutschen Straßburg mit aufgepflanztem Bajonett gegen die aufgebrachte Menge vorgegangen war. Ein Mann wurde bei der Gelegenheit schwer verletzt; die Unruhen waren durch das Benehmen eines angetrunkenen Unteroffiziers ausgelöst worden.

Ein Kindermord erregte in Wiesbaden die Gemüter und über das tödlich verlaufene Duell von Schrader gegen von Kotze konnte die Zeitung nicht genug bringen. Anonyme Briefe, die monatelang in Hofkreisen herumgereicht worden waren, spielten dabei eine Rolle und die beschmutzte ›Kavaliersehre‹. Beide Duellanten waren hervorragende Schützen; von Schrader, den es erwischt hatte, hatte im Training bei hundert Schuss siebenundneunzig Treffer erzielt. Allerdings hatte er schon vor dem von Zeitungen angekündigten (!) Duell böse Vorahnungen gehabt. Der Reichstag beschäftigte sich in zwei Sondersitzungen mit der Abschaffung des Duellunwesens. Das ›Tagblatt‹: »Die Stützen der Gesellschaft sind in der Duellmanie verhaftet, während die niederen Schichten darüber nur den Kopf schütteln.«

Wiesbaden war zu der Zeit auf dem Höhepunkt seines Ruhms und seines Glanzes. Nur die Sozialdemokraten wollten nicht alles rosig und golden sehen. Sie forderten noch immer und scheinbar ohne Aussicht auf Erfolg den Acht-Stunden-Tag für die arbeitende Bevölkerung. Das ›Wiesbadener Tagblatt‹ bescheinigte ihnen in einem Kommentar zum 1. Mai, sie hätten ›gelernt zu resignieren‹: »Die Socialdemokratie hat den Traum aufgegeben, diese schlechteste aller Welten jämmerlich in Trümmer zu schlagen. Ist sie doch, neben allen ihren Unvollkommenheiten, die allerdings energisch zu bekämpfen und auszumerzen sind, im Grunde genommen ganz nett.«

Erschienen im ›Wiesbadener Tagblatt‹ am 3. September 2002 unter dem Titel ›Wagners Musik war dem Kaiser zu laut‹