Mordmaschine Eichberg

Artikel

im Jahr 2006 veröffentlichte das Wiesbadener Tagblatt eine zehnteilige Serie seines Autors Hans Dieter Schreeb über die Geschichte der ›Heil- und Pflegeanstalt Eichberg‹. Diese Psychiatrie in schönster Lage – hoch über Eltville und dem Rhein, in vorbildlicher Weise erbaut - ist heute unter dem Namen ›Vitos Rheingau‹ eine Einrichtung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Im Kern geht sie auf eine 1815 im ehemaligen Kloster Eberbach eröffnete ›Irrenanstalt‹ mit schönsten Reformideen zurück. Um die Jahrhundertwende von 1900 wurde die Einrichtung von der Ärzteschaft als ›Zierde der deutschen Irrenhäuser‹ betrachtet. Im Dritten Reich wurden auf dem Eichberg dann – geschätzt – 2 500 Menschen ermordet, davon 600 Kinder. Da die Tagblatt-Serie in wissenschaftlichen Arbeiten immer wieder erwähnt wird, hier Auszüge daraus: 

 

 

Die Zeit der Weimarer Republik war wie vom Fieber geschüttelt. Die Eliten hatten das Gefühl, innen- und außenpolitisch bedroht zu sein und dieses Gefühl steigerte sich bis zum Wahn. 

Für die ›Wahnsinnigen‹ mit Stempel war es eine harte Epoche.

Während der gesamten Zwanziger Jahre wurden ideologische Debatten über ›Minderwertige‹ geführt. So bitter die Wahrheit auch ist: In diesen Jahren wurden die Grundlagen für das ›sozialrassistische Gedankengut‹ der Nazis gelegt und durchaus nicht nur von den Rechtesten der Rechten. Mit der Sterilisation behinderter Frauen und den Massenmorden an psychiatrischen Patienten, tarnend ›Euthanasie‹ genannt, vollzogen die SS-Ärzte nachher genau das, was damals diskutiert und verlangt wurde.

1920 erschien eine Broschüre mit dem Titel ›Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens‹, die der Frage nachging, ob ›lebensunwertes Leben‹ – worunter zunächst ›einwilligungsunfähige‹ Patienten verstanden wurden – von staatlicher Seite aus ›beendet‹ werden dürfe.

Die beiden Verfasser, der angesehene Juraprofessor Karl Binding und der nicht minder renommierte Psychiater Alfred Hoche, waren keine Nationalsozialisten und hatten auch keine rassistischen Motive. Ihnen ging es um die schwierige Frage nach der Legitimität von lebensverkürzenden Maßnahmen, um die betroffenen Menschen ›vom Leid zu erlösen‹. 

Erstmals wurden jedoch in dieser Schrift gegenüber unproduktiven Menschen die menschenverachtenden Vokabeln benutzt, die nachher den Eichberger Anstaltsärzten wie selbstverständlich von den Lippen gingen: ›Viertelsmenschen‹, ›Ballastexistenzen‹, ›leere Menschenhülsen‹.

Die wirkliche Tragik dabei: In dieser und in ähnlichen Schriften setzten sich zum ersten Mal angesehene Wissenschaftler der verschiedensten Fachrichtungen dafür ein, Menschen nach Nützlichkeitsgesichtspunkten zu bewerten und zu behandeln. Hitler soll die Abhandlung vom lebensunwerten Leben während seiner Gefängniszeit studiert haben; glaubhaft ist es.

 

Und noch eine andere Wahnidee, die nicht unbedingt mit den späteren NS-Rassenlehren gleichzusetzen ist, aber ihr ebenfalls den Boden bereitete, kam nach dem Ersten Weltkrieg in akademischen Kreisen auf und machte dann schnell auch in der Öffentlichkeit Furore: die ›Rassenhygiene‹, später hochtrabend ›Eugenik‹ genannt. 

Sie versprach, mittels exakter Wissenschaft gesellschaftliche Prozesse, wie demographische Entwicklung und Reproduktionstätigkeit, positiv zu beeinflussen. Im Grunde ist mit wenigen Sätzen gesagt, was gemeint ist: Die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland (und in anderen zivilisierten Ländern) laufe in die falsche Richtung, die ›Degenerierten‹ setzten sich immer rascher durch und verdrängten die ›Gesunden‹. Mit zunehmender kultureller Entwicklung werde das natürliche Ausleseprinzip außer Kraft gesetzt. Medizin, Wohlfahrtspflege und selbst der Krieg wirkten ›kontraselektorisch‹: Die Falschen blieben übrig. Dieser ›Verpöbelung der Rasse‹ müsse entgegenwirkt werden.

 

1927 schrieb ein katholischer Moraltheologe (mit kirchlicher Druckerlaubnis): »Die Minderwertigen vermehren sich quantitativ viel schneller als die Tüchtigen. Wenn man die Vermehrungsziffern der Tauglichen wie der Untauglichen kennen würde, so könnte man das Jahrhundert errechnen, wo der letzte Tüchtige durch die Masse der Anormalen im Kampfe ums Dasein erliegen muß.« 

Und ein Generalarzt namens F. Buttersack erregte sich: »Eine wachsende Zahl von forst- und landwirtschaftlichen entomologischen Anstalten bekämpft Reblaus, Nonne, Forleeule, Kartoffelkrankheit, Borkenkäfer, Kiefernspanner usw. Aber vor den Schädlingen, welche Menschenantlitz tragen, machen wir halt!«

Die Grundlagen waren also gelegt, jetzt mussten nur noch die Praktiker ran. 1933 war es dann so weit.

 

Von heute her betrachtet ist es geradezu folgerichtig, dass aus der alten nassauischen Musterklinik Eichberg während der Naziherrschaft eine Mordmaschine wurde. 

Alles war vorhanden: Machtgier, Mordlust, teuflische Gesetze, verdrehte Rechtfertigungen und willfährige Helfer, vor allem aber Opfer, die sich nicht wehren konnten. 

Selbst Geld und Sex spielten eine starke Rolle. 

Die Konstellation war so klassisch wie ein Stück von Shakespeare. Wenn man ein Beispiel für die Verführung durch das Böse sucht, hier hat man es.

Da war erst mal die Staatsführung, die die Revolution von oben wollte. Aus Schwarz sollte Weiß werden, das Sittengesetz wurde auf den Kopf gestellt. Außer den Tätern war jedermann verwirrt und unsicher und dies bis zum letzten Tag. Dann gab es Verbohrte, selbst unter den Ärzten und Pflegern (und Pflegerinnen) des Eichbergs, die es für absolut richtig hielten, dass ›lebensunwertes Leben‹ ausgemerzt wurde. Entweder mit der Giftspritze oder, damit es effektiver wurde, in der Gaskammer. Für diesen Zweck ›gaben‹ sie Patienten nach Hadamar ›ab‹. 

Des Weiteren spielte mit ein altgedienter Chefarzt, der zu den Verbrechen an den Kranken schwieg, weil er nicht als Schwächling dastehen wollte. 

Und schließlich gab es eine Figur, die viel zu wenig betrachtet und gewürdigt wurde: Fritz Bernotat, der Verwalter und Organisator im Hintergrund. Er wurde nach ’45 nicht mal vor Gericht gestellt, geschweige denn verurteilt! Erst seit einigen Jahren weiß man wirklich über ihn Bescheid; kann man es zumindest wissen, wenn man will. 

 

Eigentlich muss man die Erzählung vom großen Morden auf dem Eichberg mit ihm beginnen. Fritz (Taufname: Otto-Friedrich) Bernotat, geboren 1890, hatte 1920 als Sekretär in der Verwaltung der Provinz Hessen-Nassau angefangen. Bis 1933 hatte er es nicht viel weitergebracht. Da saß er als Obersekretär in der Registratur der Personalverwaltung im Wiesbadener Landeshaus am Ring, wohl weil er als Nazi bekannt war. Immerhin war er 1928 in die ›Partei‹ und 1932 in die SS eingetreten. Man kann sich vorstellen, wie er bei ›Führers Geburtstag‹ getönt und den Arm hochgerissen hat.

Nach der Machtergreifung bewies er, was in ihm steckte. Gauleiter Sprenger machte ihn zu seinem ›Beauftragten‹ für die ›Überwachung und Durchführung der Säuberung des Beamtenkörpers‹. Damit wurde aus Bernotat ein kleiner Nero, er konnte Leute hin- und herschieben, entlassen oder im Amt belassen. Agil und skrupellos wie er war, nutzte er seine Position reichlich aus und spielte mit Genuss Schicksal.

Damit jeder wusste, mit wem er es zu hatte, richtete er sein Büro im Vorzimmer des Landeshauptmanns ein. Für die psychisch Kranken in Hessen-Nassau wurde er insofern zum Verhängnis, als er auch so etwas wie der ›Wohlfahrtskommissar‹ im Gau wurde, zuständig unter anderem für die Heilanstalten Eichberg und Hadamar.

Er glaubte jedes Wort, was man ihm über ›Rassehygiene‹ und ›Rassereinheit‹ erzählte. Er hasste geistig oder körperlich behinderte Menschen ganz persönlich und in einer widerlichen Art. Bernotat machte keinen Hehl daraus, dass – ginge es nach ihm – alle Krüppel erschlagen würden. 

 

Eines der ersten Gesetze der Nationalsozialisten war das ›Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹ (GzVeN), erlassen im Juli 1933. Bezeichnenderweise war es bereits in der Weimarer Republik vorbereitet worden und lag sozusagen unterschriftsreif in der Schublade. 

Den Zwangssterilisationen, die das Gesetz vorsah, fielen im gesamten Reich rund 400 000 Menschen zum Opfer. Bei den am Fließband durchgeführten Operationen kamen ungefähr fünftausend Personen ums Leben, neunzig Prozent von ihnen Frauen.

Auch auf dem Eichberg wurde geschnippelt und verstümmelt. Ab 1934 (bis 1938) unterhielt man dort eine eigene ›Sterilisationsabteilung‹, in der Frauen und Männer Opfer von Sterilisationen wurden. Und zwar nicht nur eigene Patienten, sondern auch Unglückliche, die man aus irgendeinem Grunde irgendwo anders ›abgestempelt‹ und hierhin verlegt hatte. 

Noch heute werden erschütternde Berichte von Frauen veröffentlicht, die auf diese Art um ihr Lebensglück betrogen wurden.

Eine Frau, die sterilisiert wurde: »Mit unserem Kummer über unsere Abstempelung als ›minderwertige Erbkranke‹ und über die lebenslangen Folgen der Eheverbote und der rigorosen Ausbildungs- und Berufsbeschränkungen ließen uns unsere Ärzte und Seelsorger völlig allein. Viele Frauen sind an der Operation gestorben. Viele haben ihr Leben selbst beendet. Ohne Ehe, ohne Kinder, mit dem Makel der ›Minderwertigkeit‹ gezeichnet, schien es ihnen nicht mehr lebenswert. Für mich wurde die Selbstmordmöglichkeit, die mir vorher nie gekommen war, zur entscheidenden Lebenshilfe.« 

 

Ab Mitte 1932 war Dr. Wilhelm Hinsen Chefarzt auf dem Eichberg. Er war kein Nazi, aber auch kein Held. Hinsen protestierte nicht, als die Pflegesätze runter und runter gingen. Den Kranken wurden die Matratzen weggenommen, dafür gab es Strohsäcke. Der Wein der Anstalt Eichberg ging für ›Gefolgschaftsabende‹ drauf und für die Kranken blieb nur noch Verpflegung wie in den Notzeiten des Ersten Weltkriegs. 

Die Nazis und speziell Bernotat machten keinen Hehl aus ihren ›Sparmaßnahmen‹. Im Gegenteil, sie machten noch Propaganda damit, dass sie die angeblich von den ›Erbkranken‹ verursachten »ungeheuren Fürsorgelasten« gesenkt hätten. Das eingesparte Geld werde nun für die Pflege der ›Erbgesunden‹ aufgewandt. In Wirklichkeit floss es in viele Taschen, auch in die eigene. 

Dr. Hinsen machte so lange mit, bis ihm der Landeshauptmann Traupel (schärfster Konkurrent und persönlicher Feind des Gauleiters Sprenger) 1938 im Vertrauen ein Gesetz ankündigte, wonach die unheilbar Geisteskranken in absehbarer Zeit systematisch getötet werden sollten. Darauf gab Dr. Hinsen seinen Posten auf und ließ sich zur Wehrmacht versetzen; das sagte er jedenfalls nach dem Krieg im ersten ›Eichberg‹-Prozess aus.   

 

Sein Nachfolger wurde der bisherige Oberarzt der Anstalt, Dr. Friedrich Mennecke, eine Gestalt wie aus dem Bilderbuch des tüchtigen KZ-Arztes. Tatsächlich war Mennecke nach 1941 nur noch nominell Chefarzt des Eichbergs und in der Hauptsache ›Gutachter‹ der ›Aktion T 4‹, dem ›Euthanasie-Programm‹ – mit wenigen Federstrichen brachte er dabei Tausende von Leuten um.

Grausig sind die vielen Privatbriefe an seine Frau, die erhalten geblieben sind. Sie zeigen ihn als kitschliebenden Kleinbürger, der zwischen ›Linsensuppe bürgerlich‹ mittags in der Kantine und drei Sorten Wurst, Butter, Brot und Bier abends im Gasthaus hundert ›Bögen‹ bearbeitet hat – jeder Bogen ein Todesurteil. Manchmal erledigte er Juden, Russen und Schwachsinnige auch ›portionsweise‹, die Portion zu 1200 Menschen. 

Dr. med. F. Mennecke, Jahrgang 1894, hatte eine kaufmännische Lehre hinter sich gebracht, weil erst sein Bruder (»jetzt Staatsanwaltsrat in Wiesbaden«) studieren sollte. Deswegen konnte er erst verhältnismäßig spät, nämlich 1927, sein Medizinstudium beginnen. Fünf Jahre später, 1932, war er Mitglied der NSDAP und Assistenzarzt. 

In einer Bewerbung schrieb er: »Wenn ich zu normaler Zeit meinen Beruf erlangt hätte, würde ich jetzt wahrscheinlich längst in sicherer Lebensstellung sein, so aber muss ich umso mehr darauf bedacht sein, bald eine gesicherte Stellung zu erwerben, zumal ich beabsichtige, mich bald zu verheiraten.«

Glücklicherweise kannte er den SS-Kameraden Bernotat ganz gut, spielte mit dem sogar Karten, und gelangte so an den schönen Posten auf dem Eichberg. Er hatte zwar keine ausreichenden psychiatrischen Kenntnisse, dafür aber eine feste national-sozialistische Weltanschauung: »Jüdische Korruption und Selbstsucht erlebte ich teilweise sogar am eigenen Leib!« 

 

Bei diesen Voraussetzungen war seinem Wirken natürlich Tür und Tor geöffnet.   

Das Verhältnis zwischen Fritz Bernotat, dem Diktator im Wiesbadener ›Landeshaus‹, und Dr. Mennecke, zu Beginn des zweiten Weltkriegs Herrscher auf dem Eichberg, war mal so, mal so. 

Bernotat passte es zum Beispiel nicht, wie sich Mennecke von seiner Eva, seiner über alles geliebten Frau, abhängig machte. Er tat praktisch nichts, ohne ihr darüber in einem Brief Rechenschaft abzulegen. Während des Krieges fuhren die Beiden sogar gemeinsam und mit Chauffeur durch Deutschland, wenn Mennecke im Rahmen des ›T4‹-Mordprogramms, beschönigend und beruhigend ›Euthanasie‹ genannt, im Rheinland, in Sachsen oder im schönen Tirol in Psychiatrien und in KZ’s Insassen für die Tötung aussuchte. 

Auf der anderen Seite hatte Bernotat in Doktor M. einen willfährigen Helfer. Er konnte sich immer darauf verlassen, für seine Karriere ging Mennecke buchstäblich über Leichen. Die Zustände in der Landesheilanstalt Eichberg wurden kontinuierlich schlechter und während des Krieges dann endgültig katastrophal. Es gibt Berichte über den ›Bunker‹, bei denen dem Leser ein Schauder über den Rücken läuft. Der ›Bunker‹ war ein lichtloses Verlies wie von Breughel gemalt – feucht, kalt, voller Ratten. Die Opfer (wie soll man in solchem Zusammenhang noch von Patienten sprechen?) vegetierten hier in einer schwer beschreibbaren Weise. Für sie gab es nicht mal genug Decken und Strohsäcke. 

Das Hin und Her in den persönlichen Beziehungen zwischen Bernotat, inzwischen Landesrat, und Dr. Mennecke brachte es mit sich, dass der Eichberg-Chefarzt Anfang des Krieges an die Westfront abkommandiert, dann wieder ›kv‹ gestellt wurde, also angeblich zu Hause ›unabkömmlich‹ war. 

 

Wenn er nicht da war, besorgte Dr. Walter Schmidt die Geschäfte, der Oberarzt der Klinik. Im Gegensatz zu Dr. Mennecke (dessen Vater Arbeiter in einem Steinbruch gewesen war) stammte Dr. Schmidt aus gutsituierten, bürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater war renommierter Architekt in Wiesbaden. Walter Schmidt war 1911 in Wiesbaden geboren, hatte ’32 Abitur gemacht und in Frankfurt Medizin studiert. 1937 hatte er die Approbation in der Tasche; anfangs schlug er sich als Vertreter für Landärzte durch. Das änderte sich, als er Volontär und Assistenzarzt in der Heilanstalt Hadamar wurde. Seit dem 1. Mai 1939 war er dann auf dem Eichberg, nach zweieinhalb Jahren wurde er hier Oberarzt. Ab 1943 war Dr. Schmidt auch offiziell der Chefarzt des ›Eichberges‹.

Schmidt war ein menschliches Chamäleon: Er gab sich überall so, wie es von ihm erwartet wurde. Als Landarzt erlebten ihn die Menschen als zuverlässigen, hilfsbereiten Doktor vom alten Schlag, persönlich gewinnend, sogar charmant. Im Krieg und sogar noch als Chefarzt half er im Rheingau nebenbei als praktischer Arzt aus, und das wurde ihm hoch angerechnet. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab er im Zuchthaus Butzbach (im so genannten ›Eichberg-Prozess‹ war er vom Landgericht Frankfurt zu lebenslänglich Gefängnis, dann in der Berufung zum Tode verurteilt worden) den frommen, einsichtsvollen Christen. Selbst der evangelische Anstaltspfarrer, ein Mann der ›Bekennenden Kirche‹, sagte vor dem Berufsgericht aus, die Haltung Dr. Schmidts nötige ihm Hochachtung ab. Den Wärtern gegenüber war verhielt sich Schmidt bescheiden und unkompliziert, dem Direktor gegenüber höflich und zuvorkommend, eben ein wahrer Christ.

Als Anderes gefragt war, bot er das. Er war 1930 in die NSDAP eingetreten und 1932 in die SS. Er gehörte somit vom ersten Tag an zu den Ärzten, die sozusagen einen neuen hippokratischen Eid geschworen hatten: auf Adolf Hitler. Dass ›Erbgesundheitspflege‹, ›Rasseschutz‹ und ›rassische Aufartung‹ zu seinen Aufgaben zählten, war ihm nicht nur bekannt, das hatte er auch verinnerlicht. 

Entsprechend hatte er nachher keine Probleme mit Anweisungen aus der ärztlichen ›Reichsführung‹ wie diesen: »Kann wohl nicht bestritten werden, dass gerade jetzt während des Krieges, wo so viele gesunde Menschen ihr Leben lassen müssen, es auf die Geisteskranken, die der Volksgemeinschaft sowieso keinen Nutzen bringen, nicht ankommt. Bei der gegenwärtigen schlechten Ernährungsverhältnissen müssen wenigstens diese Menschen aus dem Sektor der Ernährung ausfallen!«

Worin unterschied sich denn diese Direktive des ›Reichs-Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen‹ von der Aufforderung des zuständigen Dezernenten Bernotat: »Schlagt sie tot!« 

Dr. Walter Schmidt ließ auf dem Eichberg hungern und verhungern, ›spritzte‹ aber auch persönlich ›ab‹: Er verabreichte nach Gusto die Todesspritze: »Er deutete auf einzelne Patienten und sagte: ›Der oder die gefällt mir nicht mehr!‹« Dieser flappsige Satz, bei der abendlichen Visite ausgesprochen, bedeutete das Todesurteil. Eine andere entsprechende Floskel lautete: »Ich komme dann nachher rauf!«

Den Opfern wurde ›Luminal‹ verabreicht; sie starben qualvoll: Zwei bis drei Minuten dauerte jeweils der Todeskampf. Siebzig solcher Morde wurden Dr. Schmidt im ›Eichberg‹-Prozess nachgewiesen. 

Eine Hauptbelastungszeugin war eine Oberschwester, die ihn nach Erkenntnis des Landgerichts Frankfurt »in einer frauhaft scheuen Zuneigung geliebt« hatte und ihm beim Spritzensetzen assistiert hatte. 

 

Die Zahlen, wie viele Menschen während der NS-Zeit auf dem Eichberg umkamen, schwanken; mit der Zeit ging einfach der Überblick verloren. 

Man schätzt, dass der Eichberg während des Krieges »Durchgangsstation für insgesamt 2 200 geistig Behinderte« war. Zur Tarnung wurden sie eine Weile hierher verlegt und dann von hier aus nach Hadamar verfrachtet, um dort vergast oder auf andere Weise getötet zu werden. 

Die Transporte zwischen den verschiedenen Anstalten wickelte eine eigene Organisation ab, die ›Gekrat‹, die Busse mit verhängten Scheiben durchs gesamte Reichsgebiet rollen ließ. Aber auch ›eigene‹ Patienten gab der Eichberg gern nach Hadamar ab, man mordete eben Hand in Hand.

 

Dr. Mennecke und sein Stellvertreter Dr. Schmidt waren vom ersten Tag an in das ›Euthanasie‹-Programm bzw. in die ›Aktion T 4‹ – benannt nach dem Hauptquartier der Mord-Organisation in der Thiergartenstraße 4 in Berlin – eingeweiht. Fritz Bernotat, der sich immer seiner guten Beziehungen zur ›Kanzlei des Führers‹ rühmte, hörte sogar schon vorher das Gras wachsen. Als es dann soweit war, gehörte er zu den effektivsten Mördern. 

In einer Studie kann man lesen: »In dem Wiesbadener Anstaltsdezernenten Bernotat fand ›T4‹ einen engagierten Mitstreiter, der aufgrund seiner Präsenz und Durchsetzungskraft den Bezirksverband Nassau insgesamt zu einem verlässlichen Partner der Mordorganisation formen konnte.«

 

Vor der Bevölkerung wurden die Dinge versteckt, so gut man es nur vermochte. Um die Standesämter nicht mit immer neuen Todesmeldungen zu beunruhigen, wollte man auf dem Eichberg ein eigenes Standesamt Erbach II etablieren. Das klappte dann nicht und folgerichtig kam es zu mehr als einer Panne: Patienten, denen man schon vor Jahren den Blinddarm entfernt hatte, waren angeblich an ›Blinddarmdurchbruch‹ verstorben und ähnliches. In Hadamar erschreckte der schwarze Rauch über dem Krematorium. Als die Gerüchte immer konkreter wurden, baute man dort wenigstens die Gaskammer ab – und verfrachtete sie ›in den Osten‹. Dafür wurde nun mit Hilfe von Medikamenten ›unwertes Leben‹ vernichtet.

 

Das schrecklichste Kapitel in der langen und größtenteils ruhmreichen Geschichte der Anstalt Eichberg begann 1941: Da wurde hier eine ›Kinderfachabteilung‹ eingerichtet, in der bis Anfang 1945 Hunderte von Kindern und Jugendlichen getötet wurden. 

Darüber soll berichten, wer es vermag. Der Autor dieser Serie, im Rahmen von Recherchen zu mehr als einem Menschheitsverbrechen wahrhaftig abgebrüht, kann es nicht. Das Elend und das Grauen, das da geschildert werden müsste, übersteigt jede Vorstellung.

 

Das Ende der Nazizeit auf dem Eichberg und das Ende der Protagonisten ist gleichermaßen makaber wie (zeit-)typisch.

Zwischen dem Anstalts-Dezernenten Fritz Bernotat in Wiesbaden und dem Eichberg-Direktor Mennecke hatte allzeit ein irrationales Verhältnis von Kumpanei, Eifersucht und gegenseitiger Ablehnung bestanden. Wie Bernotat Mennecke allein die Dienstvilla mit dem herrlichen Rheinblick neidete, von dessen Eva gar nicht zu sprechen. Auch die Tatsache, dass Mennecke seine Frau auf die Eichberger Gehaltsliste gesetzt hatte, war ein Grund für Differenzen.

Als Mennecke ›Gutachter‹ beim Mordprogramm T 4 wurde und nun ›Dienstreisen‹ in ganz Deutschland und Umgebung unternehmen konnte, machte er sich gewissermaßen selbstständig, entzog sich jedenfalls dem direkten Zugriff von Bernotat. Das verärgerte. Aus Reibereien wurde Feindschaft: Bei einer Fachkonferenz bezeichnete Mennecke seinen Vorgesetzten als inkompetent und verlangte dessen Absetzung. Der Höhepunkt kam nach einem Kartenabend, bei dem Mennecke 15 RM an Bernotat verloren hatte. In der ›Klosterschänke Eberbach‹ und im Beisein mehrerer auswärtiger Anstaltsdirektoren nannte er seinen früheren Förderer Bernotat einen Falschspieler. Damit hatte er sich sein Grab geschaufelt.

Bernotat mit seinen sehr guten Beziehungen nach Berlin erreichte, dass Mennecke ›zur Bewährung‹ an die Front versetzt wurde – erst im Westen, dann im Osten und hier wurde er krank, Tuberkulose. 

 

Des einen Leid, des anderen Freud. 

Dr. Schmidt war nun am Ziel angekommen, war nun auch offiziell Chef einer renommierten Klinik. Zwar war diese durch die mittlerweile seit Jahrzehnten andauernden Spar- und Behelfsmaßnahmen heruntergekommen, zehrte aber immer noch vom früheren Ruf. Dr. Schmidt tat nichts, diesem Ruf gerecht zu werden. Im Gegenteil, er kostete seine sadistischen Neigungen aus. Ein Junge aus dem Rheingau, Insasse der Klinik, lief davon, weil er seine Eltern wiedersehen wollte. Er wurde eingefangen, abgeliefert, nackt ausgezogen. Dann wurden ihm die Haare abrasiert und nach einer Stunde kam Dr. Schmidt. Im Prozess sagte der Junge aus: »Er trat mir mit dem Stiefel in den Unterleib und schlug mich mit den Fäusten ins Gesicht. Dann setzte er mir die Pistole auf die Brust und drohte mich zu erschießen.«

Schon 1942 hatten eine ganze Reihe von Patienten keine Schuhe mehr. Unter Dr. Schmidt mussten viele von ihnen Tag und Nacht nackt sein; sie starben wie gewünscht an Erkältungen und Unterkühlung. 

 

1945, als sich die US-Army dem Rheingau und dem Eichberg näherte, floh der Chef mit dem Auto eines Assistenzarztes. Er wie Mennecke wurden verhaftet und vor Gericht gestellt. Fritz Bernotat war kurzzeitig in Gewahrsam der Amerikaner. Die wussten aber nicht, mit wem sie es zu tun hatten, achteten nicht weiter auf ihn. Bernotat floh und lebte – unter falschen Namen – unbehelligt in der Nähe von Fulda; dort starb er 1971 eines natürlichen Todes.

Dr. Mennecke wurde am 21. Dezember 1946 von der 4. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main wegen Mordes und Beihilfe zum Mord zum Tode verurteilt, Schmidt zu lebenslangem Zuchthaus. Die Oberschwester und der Oberpfleger kamen mit mehrjährigen Gefängnisstrafen davon. 

Schon während des Prozesses hatte Dr. Mennecke wegen seiner Tuberkulose Haftverschonung verlangt; die war abgelehnt worden. Anfang 1947 starb er. Eine Zeitung teilte in der Todesnachricht mit, seine Frau habe ihn zwei Tage zuvor besucht. Das las sich, als habe Eva Menecke, die über alles geliebte Ehefrau, etwas mit seinem Ableben zu tun, habe ihm etwa Gift zugespielt. Die Gefängnisleitung verwahrte sich gegen solche Vorstellungen, bestand darauf, er sei an seiner Krankheit gestorben. Ganz ließ sich der Punkt nie klären. 

Dr. Schmidt wandelte sich in der Haft, wie bereits beschrieben, zum frommen und frohen Christen, nahm es auch scheinbar gefasst auf, dass in der Berufsverhandlung sein Urteil in ›Todesstrafe‹ umgewandelt wurde. 

Dann aber setzte eine jahrelange Pressekampagne ein, Tenor: Lasst den Engel vom Eichberg wieder zu seinen Schutzbefohlenen! Der Höhepunkt der Infamie war wohl, dass Gerüchte gestreut wurden, Dr. Schmidt habe in der Haft geradezu Wunder wirkende Methoden zur Behandlung Multiplesklerose-Kranker entwickelt. Der Druck auf die Hessische Landesregierung wurde stärker und stärker und endlich, nach sechs Jahren Haft, wurde Dr. Schmidt – unter anderem wegen guter Führung – entlassen. Obwohl das Berufsverbot, das verhängt worden war, nie aufgehoben wurde, praktizierte er danach wieder als Arzt, erst als Urlaubsvertreter, dann mit eigener Praxis. Dr. Walter Schmidt starb 1970 in Wiesbaden.

Die Täter am Schreibtisch, die Verantwortlichen im Wiesbadener Landeshaus, wurden nie zur Verantwortung gezogen.

 

Bezeichnend für den Geist der Zeit war auch der zweite ›Eichberg‹-Prozess, auch ›Stern‹-Prozess genannt. Er fand vor der Dritten Strafkammer des Wiesbadener Landgerichts statt; dabei wurde gegen drei freie Mitarbeiter der Illustrierten ›Stern‹ verhandelt. Der Prozess lief über fünfzig Sitzungstage, und am Ende wurden die Drei wegen übler Nachrede und falscher Anschuldigung (außerdem wegen unbefugter Veröffentlichung eines Bildes) zu Geldstrafen von 200, 300 und 550 DM verurteilt. Dazu kamen die Kosten des Verfahrens in Höhe von 20 000 bis 30 000 DM, damals ein Vermögen.

Gegenstand der Anklage waren Veröffentlichungen in den Heften Nr. 28 und 30, Jahrgang 1950 des ›Stern‹.

In den Berichten und in dem Prozess ging es nicht um die Nazi-Vergangenheit der Anstalt, sondern um die Gegenwart von 1949, ’50. Leiter der Klinik war zu dieser Zeit wieder (seit Ende 1945) Dr. Hinsen; jener Chefarzt, der 1938 sein Amt aufgegeben und als Stabsarzt zur Wehrmacht gegangen war. 

Dass das Sterben nach 1945 in der Anstalt nicht einfach aufgehört hatte, sondern auch da noch an der Tagesordnung war, machte ihm niemand zum Vorwurf. Jeder wusste ja, wie es 1946, ’47 und auch noch ’48 mit der Ernährung ausgesehen hatte, nämlich miserabel.

Die Verhältnisse, die die ›Stern‹-Leute beschrieben, hatten aber nichts mehr mit der Not der unmittelbaren Nachkriegsjahre zu tun. Die Reporter nahmen für sich in Anspruch, dass sie »Zustände ans Licht der Öffentlichkeit gebracht« hätten, »die himmelschreiend waren, die aber der Dienstaufsicht bis dahin entgangen waren.«     

Und das waren sie auch! 

Ein Psychopath, in eine Einzelzelle von fünf Quadratmetern eingesperrt, hatte sich erhängt. Es konnte nicht geklärt werden, ob Patienten – in Zwangsjacken verschnürt – eine halbe Stunde oder einen ganzen Tag in der Badewanne hatten verbringen müssen. Schwer Erziehbare waren geschlagen worden; der verantwortliche Oberarzt redete sich damit heraus, er sei eben Anhänger der ›Reizkörper-Therapie‹ und so weiter.

Keiner der an menschenverachtenden Vorfällen beteiligten Ärzte oder Pfleger wurde von ›Wiesbaden‹ gerügt oder gar versetzt. 

Immerhin wurde angeordnet bzw. daran erinnert, dass Patienten nicht mehr mit ›Dauerbädern‹ bestraft oder sonst körperlich gezüchtigt werden dürften. Der Missbrauch therapeutischer Maßnahmen zwecks Strafe sollte in Zukunft zur fristlosen Entlassung führen. 

Der ›Eichberg‹ war damit wieder an seinem Ausgangspunkt angekommen.