Mordfabriken

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Die Deportation und Ermordung der Wiesbadener Juden vor siebzig Jahren Gedenk- und Studienfahrt zu den Vernichtungslagern im Osten Polens-   Vor siebzig Jahren – im Mai und im Juni 1942 – wurde ein großer Teil der damals noch in der Stadt lebenden Wiesbadener Juden deportiert: nach Izbica, Majdanek, Sobibór. Nach Orten also, von denen sie noch nie im Leben gehört hatten und die für alle den Tod bedeuteten. Nicht einer von ihnen, kein Mann, keine Frau, kein Kind, kehrte zurück. Das ›Aktive Museum Spiegelgasse‹ hat nun eine achttägige Fahrt zu den Todeslagern an der polnischen Ostgrenze unternommen, eine Studien- und Gedenkfahrt; in jedem Fall eine Fahrt, die aufwühlte und Kraft kostete. Man kann so viel über die Mordmaschinerie des Dritten Reiches gelesen und in Bildbänden oder Spielfilmen gesehen haben – alles bleibt unbegreiflich und unfassbar. Selbst, wenn man an der Stelle steht, wo Hunderttausende erschlagen, erschossen, vergast und auf gewaltigen Rosten aus Eisenbahnschienen verbrannt wurden. Oft herrschte beim Besuch der ehemaligen Todesfabriken, nun Friedhöfe und Gedenkstätten zugleich, hochsommerliche Hitze, und über der Szenerie lag eine fast überirdische Stille. Und doch waren dies Orte, wo Aufseherinnen hochschwangere Frauen von Schäferhunden zerreißen ließen oder wo der Lagerkommandant vor dem Frühstück von seinem Balkon aus zu seinem puren Vergnügen ›Arbeitsjuden‹ erschossen hatte. Solches Verhalten war nicht die Regel. Doch schiere Mordlust und sadistisches Töten sind immer noch leichter zu begreifen als die Tatsache, dass genau hier, wo man nun über einen fast autofreien Parkplatz geht, vor siebzig Jahren ein ›Transport‹ nach dem anderen ›abgefertigt‹ wurde; dass in Sobibór oder Belzec Zug um Zug jeweils hunderte und aberhunderte Menschen ankamen, die auf der Stelle in den Tod geführt wurden. In Sobibór war alles auf Täuschung und Beruhigung der Opfer angelegt. Hielt der Zug an der Rampe, ertönte Begrüßungsmusik aus Lautsprechern, eine freundliche Stimme verkündete Mut machendes, man sah nette kleine Häuser, Blumen, gepflegte Vorgärten; noch die Wegweiser etwa zum ›Bad‹ waren mit Liebe gestaltet. Nach dem schrecklichen Transport in Viehwaggons ohne Wasser oder Essen schöpfte man Hoffnung. Da nahm man es hin, dass man sich auf dem ›Umschlagplatz‹ entkleiden musste, dass den Frauen die Haare abgeschnitten wurde und man nackt zum Bad gehen musste – das neue Leben sollte ja hygienisch beginnen! Wer sollte ahnen, dass er oder sie in wenigen Minuten in einem niedrigen dunklen Betonbau eingepfercht sein würde, in den, je nach den Umständen, die Abgase von Panzermotoren, Kohlenmonoxyd aus Stahlflaschen oder das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B eingeleitet wurden? Nach wenigen schrecklichen Minuten war alles vorbei. Kommandos von ›Arbeitsjuden‹ zerrten die Leichen aus den Gaskammern und fledderten sie auf Befehl. Die SS war auf Goldzähne ebenso scharf wie auf Eheringe, auf die in die Kleidung eingenähten Notgroschen sowieso. Das Lager Sobibór, etwa hundert Kilometer von Lublin entfernt, wurde Anfang 1942 in einer menschenleeren Landschaft nahe des Bug errichtet, damals wie heute ein idyllischer Grenzfluss. Seinerzeit markierte der Bug zunächst die Grenze zur Sowjet-Union; dann zum ›Reichskommissariat Ukraine‹. Heute ist der Bug die friedliche Außengrenze der Europäischen Union. Sobibór selbst bestand aus einigen Häusern und einer Bahnstation, sozusagen abseits von allem. Vorbild für Sobibòr war das erste Vernichtungslager Belzec – noch weiter von unerwünschten Beobachtern entfernt. Belzec liegt vierzig Kilometer südlich der Stadt Zamosc, fast unmittelbar an der ukrainischen Grenze. Hier fand auf einer nur 265 mal 275 Meter großen Fläche das Morden pur statt: Bis Mitte Juni 1942 wurden an die hunderttausend Menschen aus den Distrikten Lublin, Lemberg und Krakau ermordet. Dann kam der Befehl von Heinrich Himmler, des Reichsführers-SS und Chef der Deutschen Polizei‹  und einer der Hauptverantwortlichen des Holocausts, die Angelegenheit zu forcieren: Alle arbeitsunfähigen Juden des sogenannten ›Generalgouvernements‹ waren bis zum Jahresende 1942 zu töten. Daraufhin ließ der damalige Lagerkommandant von Belzec sechs weitere Gaskammern errichten, die 1 500 Menschen auf einmal fassen konnten. Wenige Monate später, Anfang Dezember 1942 wurden die Massenmorde in Belzec eingestellt. Bis dahin waren auf dem kleinen Fleck zwischen 600 000 bis 800 000 hauptsächlich polnische, aber auch westeuropäische Juden ums Leben gekommen. Nach diesem grauenhaften Vorbild wurde das Vernichtungslager Sobibór angelegt – verschiedene Bereiche, die strikt voneinander getrennt waren, ein Platz, den dem sich die Menschen entkleiden mussten, dann ein schmaler Gang durch ein Waldstück zu den Gaskammern, diese als Brausebäder getarnt.   Hier, in Sobibór, endete aller Wahrscheinlichkeit nach auch das Leben der 337 Wiesbadener, die am 10. Juni 1942 am Schlachthof an der Mainzer Straße ihre letzte Reise angetreten hatten. Sie hatten zwei Tage zuvor einen Brief der ›Bezirksstelle Hessen-Nassau der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland‹ erhalten: »Auf behördliche Anordnung setzen wir Sie davon in Kenntnis, dass Sie sich ab Mittwoch, den 10. Juni 1942, vormittags 8 Uhr, zur Abwanderung in Ihrer Wohnung bereitzuhalten haben, und behändigen Ihnen hiermit die von Ihnen vor Ihrer Abwanderung auszufüllende Vermögenserklärung. Mit der Zustellung der Vermögenserklärung ist Ihr gesamtes Vermögen als beschlagnahmt anzusehen. Demgemäß haben Sie sich jeder Verfügung über dasselbe zu enthalten; insbesondere ist es Ihnen strengstens untersagt, irgendwelche in Ihrem Besitz befindlichen Gegenstände zu verschenken, zu verkaufen oder einem anderen in Verwahrung zu geben.« Die Mitnahme von Wertsachen, insbesondere von Gold- oder Silbersachen war strengstens verboten, geduldet waren lediglich Eheringe. Empfohlen wurde, warme Kleidung und festes Schuhwerk mitzunehmen sowie Reiseverpflegung für drei Tage. Ausdrücklich war vermerkt: »Reiseverpflegung nicht im Handkoffer unterbringen!« Das Schreiben endete mit dem Satz: »Die Lebensmittelkarten sind von Ihnen beim Verlassen Ihrer Wohnung mitzunehmen und erst später auf Weisung abzuliefern«. Heute wirkt das ehemalige Vernichtungslager, jetzt eine Gedenkstätte, ungemein friedlich. Archäologen graben im Sand, es gibt ein kleines Museum, in dem das Modell des Lagers gezeigt und erklärt wird – doppelter Stacheldrahtzaun, Scheinwerfer, Minenfelder und Sumpf um das Lager, hier das Haus des Kommandanten, dort die Baracken der Wachmannschaften, Ukrainer zumeist usw. Im Zentrum des Modells sieht man den Pfad zu den Gaskammern, im SS-Jargon ›Himmelsfahrtsweg‹ genannt. Auf und um das Gelände vor allem schütterer Wald, wie von preußischen Förstern gepflanzt, und ein breiter asphaltierter Weg, der zum eigentlichen Mahnmal führt. Man gelangt zu einem sehr breiten, sehr flachen symbolischen Grabhügel. Er enthält Asche der Ermordeten. Rechts und links des Weges gibt es Massengräber, die auch heute noch durch nichts gekennzeichnet sind. Anfangs wurden so viele Leichen im Wald verscharrt, dass die Wachen um ihr Trinkwasser fürchteten. Daraufhin wurden die Toten verbrannt; der Leichengeruch war noch in zehn Kilometer Entfernung wahrzunehmen. Die Berge von Asche, die auf diese Weise anfielen, wurden erst nach Monaten unter die Erde verscharrt.   Hier, vor diesem Grabhügel, legte die Gruppe aus Wiesbaden – insgesamt zwölf Menschen – Blumen nieder, zündete Kerzen an und sprachen den Kaddisch, eine Lobpreisung des göttlichen Namens. Sehr ergreifend die Lesung der Namen aller 337 Toten, zu deren Gedenken die Reise letztlich unternommen worden war. Die ersten Namen, die genannt wurden, waren Arthur und Cilli Ackermann, die letzten Helmuth und Hanna Wolff, Hedwig Wolle und Margarethe Zwergel. Es war schwer zu ertragen, wenn die Namen ganzer Familien, einschließlich aller Kinder gelesen wurden und dem oder der Vorlesenden versagte mehr als einmal die Stimme. Anders als in Theresienstadt, in Majdanek und zum Teil auch in Auschwitz wurden in Sobibór weder Listen noch Totenbücher geführt, so dass es nicht mehr mit letzter Sicherheit möglich ist, die Namen aller dort Ermordeten und ihr exaktes Todesdatum mit letzter Sicherheit zu ermitteln. Immerhin steht fest: Neben den mit den beiden Transporten vom Mai und Juni 1942 hierher Deportierten wurden in Sobibór auch weitere einundvierzig Wiesbadener getötet. Es waren Menschen, die vor dem Naziterror nach Belgien oder in die Niederlande geflüchtet waren und die dort von der einheimischen Polizei verhaftet und den Deutschen übergeben wurden. Und es steht weiter fest: Sie wurden auf alle Fälle und unter allen Umständen vor dem November 1943 umgebracht. Das Ende des Vernichtungslagers Sobibór kam nämlich im Spätherbst 1943, als den ›Funktionsjuden‹ des Lagers, Lagerhandwerker zumeist, ein Aufstand gelang. Es kam zum Massenausbruch; von den Hunderten, die damals aus dem Lager fliehen konnten, überlebten 43 Männer. Die Meisten von ihnen schlossen sich Partisanengruppen an. Unmittelbar nach dem Ausbruch räumte die SS das Lager und suchte alle Spuren zu verwischen. Über die Motive wird heute noch spekuliert; verschiedene Deutungen sind möglich. Der Aufstand, seine Anführer und ihr Schicksal wurden in verschiedene Filmen und Dokumentationen dargestellt, auch Romane wurden über Sobiór verfasst. Das berührendste Werk ist wohl der Film von Claude Lanzmann ›Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures‹, der im Jahr 2001 in Frankreich herauskam.   Izbica, ein weiteres Ziel der Reisenden aus Wiesbaden, ist heute eine für den Tourismus völlig uninteressante kleine Siedlung, eigentlich nur eine Durchgangstraße mit modernen Wohnhäusern rechts und links, Teil der Europastraße 372, die von Warschau nach Lemberg führt. Vor dem Krieg und vor der deutschen Vergewaltigung Polens war Izbica das jüdische ›Schtetl‹ wie aus dem Bilderbuch: Über neunzig Prozent der Einwohner waren Juden, bitterarme Leute, die in heruntergekommenen Häuschen lebten. Nach allgemeiner Meinung befolgten Schtetl-Juden fanatisch die vorgeschriebenen Glaubensregeln, waren oft chassidisch, erdverbunden und abergläubisch; in Izbica konnte man alle Urteile und Vorurteile bestätigt fühlen. Dieses Dorf von rund sechstausend Einwohnern (ausgewählt, weil es an einer kleinen Eisenbahnstrecke nach Lublin lag) war von März bis November 1942 die letzte Station von etwa 26 000 Frauen und Männern auf ihrem Weg in die Vernichtungslager. Darunter waren auch viele Juden aus Deutschland und anderen europäischen Ländern, auch aus Wiesbaden. In diesem zunächst ›Durchgangsghetto‹ genannten Schreckensort mussten sie unter ärmlichsten Bedingungen vegetieren. Es gab keine Zäune um das Dorf, nur einige Wachmannschaften, die das Ghetto leicht im Auge behalten konnten; Fluchtversuche waren dennoch aussichtslos. Es gab keine Arbeit und keine Unterkünfte, jeder musste sehen, wie er irgendwie durchkam. Wer nicht durch Tauschhandel von mitgebrachter Kleidung oder Lebensmittelpaketen aus dem Reich – dies war bis zum 15. Mai 1942 erlaubt – selbst für seine Ernährung sorgen konnte, war auf die Suppe der Volksküche angewiesen. Bedeutete: Täglich starben hier zwanzig bis dreißig Menschen, die zu vollkommenen Skeletten abgemagert waren, an Erschöpfung, an Hunger. Wie sollten sie sich wehren, wenn es hieß, sie würden nun ins Arbeitslager Majdanek gebracht? Jede Veränderung konnte nur eine Veränderung zum Besseren sein, glaubten sie.   Das Lager Majdanek, heute für ein paar Zloty mit dem öffentlichen Bus vom Stadtzentrum Lublins leicht zu erreichen, war ursprünglich als Kriegsgefangenlager gedacht. Dann kam die Idee auf, es zur Vernichtung der einheimischen Juden ›umzurüsten‹ – die Stadt und die umliegenden Woiwodschaften waren die ersten Gebiete in Polen und speziell im ›Generalgouvernement‹, diesem sogenannten Nebenstaat des Deutschen Reiches‹, die ›judenfrei‹ werden sollten. Es ist eine schreckliche Bösartigkeit der Geschichte, dass ausgerechnet in Lublin, dem früheren neuen Jerusalem der Juden, die fabrikmäßige Judenvernichtung ausgeheckt wurde. Noch vor der berüchtigten ›Wannsee-Konferenz‹ waren hier Pläne und Möglichkeiten ausgedacht worden, wie man die Ermordung von Millionen Menschen am besten und saubersten bewerkstelligen könne. Ausgerechnet in Lublin, der früher (und in ihrem höchst lebendigen Kern auch jetzt wieder) so strahlenden Stadt, sind die Kasernen, Unterkünfte, Büros der ›Täter‹ noch heute zu betrachten – von außen. Und eben auch einige Baracken des Vernichtungslagers Majdanek, einige Wachtürme und selbst das Krematorium. Nichts davon wirkt ungewöhnlich – eine Kaserne sieht aus wie eine Kaserne und ein alter Zaun lässt auch niemand erschauern. Alles spielt sich heute im Kopf des Besuchers und Betrachters ab oder es spielt sich nirgends ab.   (Dieser Text erschien an drei Tagen ab dem 28. August 2012  im Wiesbadener Tagblatt.)