Meine Jahre mit den Amerikanern

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Die Amerikaner kehren nach Wiesbaden zurück. Sie sind zwar seit 1945 hier, doch es gab Zeiten, in denen die Deutschen sie aus den Augen verloren hatten. In einer zehnteiligen Serie schildert Hans Dieter Schreeb exklusiv für die Leser des Wiesbadener Tagblatts‹ seine Jahre mit den Amerikanern – eine sehr persönliche Sicht auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.     

 

1. Die erste Begegnung   

Ich bin in der Gottfried-Kinkel-Straße 1, einer Seitenstraße der Biebricher Allee geboren, mitten auf der Biebricher Höhe. Hier bin ich auch aufgewachsen – ich hätte also nur ein paar Schritte gehen müssen, um den Einzug der Amerikaner aus nächster Nähe zu erleben. Bezeichnenderweise marschierte die US-Army über die Straße ein, auf der schon die Römer nach Wiesbaden marschiert waren. 

Leider waren wir nicht zu Hause. 1945 waren wir – meine Mutter (›Kriegerwitwe‹, wie das genannt wurde), meine noch sehr kleine Schwester Ingeborg und ich – in Leinefelde, bei meinem Onkel Hermann, einem Bruder meiner Mutter. Leinefelde war damals ein großes Dorf, sehr katholisch. Die Nazis bissen sich an den Katholiken die Zähne aus; diese waren die Diaspora gewohnt und hielten tapfer durch. Über viele Jahrhunderte hatte der Ort zu Kurmainz gehört, genau genommen bis 1803. Dann wurde er preußisch und blieb es bis zum Untergang Preußens. 

Heute ist Leinefelde eine mittlere Industrie- und Handwerkerstadt, zusammengefügt aus Leinefelde und dem größeren Worbis und heißt nun Leinefelde-Worbis. In meiner Kindheit lag Worbis in weiter Ferne, ab und zu fuhr mein Onkel mit seinem Auto dorthin und nahm mich mit – das Auto hatte einen Holzvergaser, wir legten also während der Fahrt Holz auf. Meine Mutter, meine Schwester und ich waren seit Sommer 1944 in Leinefelde, einfach deshalb, weil Onkel Hermann dort einen (Filial-)Laden einer Lebensmittel-Kette führte. Somit mussten wir uns keine Sorgen machen, dass wir mit unseren Lebensmittelmarken vor leeren Regalen stehen würden. Was ›aufgerufen‹ wurde, bekamen wir. 

Außerdem fielen in Leinefelde keine Bomben, sieht man vom 1. April 1945 ab. Ausgerechnet am Morgen des Ostersonntags gab’s einen Bombenangriff. Entweder sollte der Bahnhof und die Gleise getroffen werden oder es handelte sich um einen Irrtum. Wir waren nicht betroffen, weil wir zu der Zeit in einem alten Steinbruch vor dem Ort Ostereier suchten. Der Angriff hätte leicht ein böses Ende nehmen können – zum Geschäft meines Onkels gehörte eine Tankstelle, die Pumpe am Straßenrand wurde noch mit der Hand betrieben, und wenn ›Fliegeralarm ‹ war (und das war oft) saßen wir neben den Benzintanks. Es wird nicht mehr viel Benzin in den Tanks gewesen sein, doch auch das Wenige hätte Schaden angerichtet, wäre eine Brandbombe … Woran das Leben hängen kann!   

Mein Onkel Hermann und meine Tante Lisbeth waren sehr unterschiedliche Charaktere; Onkel Hermann war großzügig von Natur aus, meine Tante wollte so viel horten wie möglich. Aber in einem waren sie sich einig: Beide waren gläubige Nazis. Mein Onkel, ein politisches Genie, wollte noch 1945 Ortsgruppenleiter der NSDAP werden, schaffte es aber nicht. Und nie habe ich jemand so erschüttert gesehen wie meine Tante, als im Radio die Meldung kam, ›der Führer‹ sei im Straßenkampf gefallen. Das Warten auf die Amerikaner – sie eroberten Thüringen, nicht die Russen – zog sich hin. Die wildesten Gerüchte gingen ihrer Ankunft voraus. Dennoch wurde das Hitlerbild über dem Radio, dem Hausaltar, anfangs keinen Zentimeter verrückt. Dann kamen die Amerikaner. Hausdurchsuchungen wurden befürchtet, das Bild blieb an seinen Platz. Mindestens noch eine Woche, dann war’s weg.   

Nun endlich meine erste Begegnung mit Amerikanern. Soweit ich weiß, stießen sie in Leinefelde auf keine Gegenwehr. Ihre Panzer rollten durch die Bahnhofstraße, an der sich das Geschäft und die Wohnung meines Onkels befanden. Die Soldaten nutzten aber auch eine schmale Nebenstraße hinter dem Haus, die kurz vorm Bahnhof wieder in die Bahnhofstraße einbog. Hier gab‘s einen kleinen Gemüsegarten, mit einem Gittertor zur erwähnten Nebenstraße. Und hier am Gartenzaun, einen Meter über Straßenniveau, sah ich meine ersten amerikanischen Soldaten. Selbst ich, ein Junge von sechs, bald sieben Jahren, wusste auf den ersten Blick, dass ich es hier mit Siegern zu tun hatte. Die Männer saßen völlig entspannt in ihren Militärwagen, je drei Mann in einem Jeep, die Windschutzscheibe heruntergelassen und sie machten den Eindruck, als seien sie auf einer Urlaubstour. Sie trugen selbstverständlich ihre Kampfanzüge, hatten ihre Waffen griff- und schussbereit und doch ging etwas völlig Unkriegerisches von ihnen aus. Es war ja nicht so, dass ich nicht vergleichen konnte. Ich hatte schon mehr als eine Kolonne deutscher Soldaten gesehen – alle auf dem Rückzug und völlig demoralisiert. Und nun diese gutgelaunten Männer … 

Dann hielt die Kolonne. Einer der Männer griff in eine seiner vielen Jackentaschen, holte einen Snicker heraus und wedelte damit, wie man mit einem Stöckchen wedelt, wenn man einen jungen Hund aufmerksam machen will. Ich verstand im ersten Moment, was die Geste sagte. Hier wartete die Versuchung auf mich. Ich zögerte – ich wusste genau, dass ich in den Augen meiner Tante Landesverrat beging, wenn ich der Versuchung nachgab. Dann dachte ich: Wer sieht’s schon?, ging die paar Schritte zum Jeep und ließ mich bestechen. Seitdem bin ich auf amerikanischer Seite, und nichts hat mich davon je weggebracht – weder die Gräuel des Vietnam-Krieges noch die Schrecklichkeiten der beiden Irak-Kriege, auch nicht die Ermordung des Präsidenten Kennedy. Weltmächte sind so, aber die USA zeigten auch Seiten, die andere Sieger nicht zeigten. Großmut zum Beispiel.         

 

2. Ohne Reiseerlaubnis   

Am Ende des Krieges waren meine Mutter, meine Schwester, und ich in Leinefelde, einem kleinen Ort in Thüringen – und wir wollten zurück nach Wiesbaden, wo wir hingehörten. Es war nicht nur Heimweh, das uns zurück nach Wiesbaden zog. Die 1. Amerikanische Panzerarmee hatten Thüringen und damit auch Leinefelde eingenommen und es war klar, dass, wie in Jalta vereinbart, bald die Russen kommen würden. Und vor ihnen hatten die Deutschen, vor allem die deutschen Frauen, weitaus mehr Angst als vor den Amerikanern und dies mit Grund.   

Nur: Wie sollten wir zurückkommen? Zu der Zeit fuhren kaum Züge und wenn, waren sie heillos überfüllt. Es waren so gut wie keine (deutschen) Personenwagen unterwegs und Busse für Deutsche verkehrten auch nicht. Vor allem Dingen hatten wir keine Reisepapiere und ohne Erlaubnis durfte man sich nur im engsten Umkreis bewegen, wollte man nicht in einem Internierungslager landen. Zu dieser Zeit, der unmittelbaren Nachkriegszeit, war das Reisen in Deutschland umständlich, zeitraubend und obendrein gefährlich. 

Nur wer ›dienstlich‹ unterwegs war, gleichgültig ob im Auftrag einer Firma oder einer Behörde, erhielt den begehrten Berechtigungsschein, der es möglich machte, dass sein Inhaber einen der wenigen durchgehenden Schnellzüge nutzen durfte. Diesen Auserwählten standen dann auch ›Reisemarken‹ zur Verfügung, mit denen sie unterwegs im Bahnhofsrestaurant etwas zu essen bekamen. Wenn’s überhaupt noch ein Bahnhofsrestaurant gab. Die meisten Gaststätten machten irgendwie und irgendwo weiter; in einem Keller oder in einem Schuppen, der den Krieg überlebt hatte. Zumindest gab’s hier was zu trinken – etwa ›Heißgetränke‹, bestehend aus Wasser, roter oder blauer Farbe und Süßstoff. 

Eigentlich unglaublich, dass trotz aller Schwierigkeiten selbst damals unzählige Menschen unterwegs waren. Nicht nur ›Hamsterer‹ oder Flüchtlinge auf der Suche nach Angehörigen oder einer neuen Heimat. Auch ganz normale Gründe trieben die Leute auf die Straße und auf die Bahn. Man wollte auch damals die Eltern besuchen, lang vermisste Freunde wiedersehen oder endlich die Braut wieder im Arm halten. Wer nicht zu den Privilegierten gehörte, aber, mit welchen Tricks auch immer, wenigstens eine Reiseerlaubnis erkämpft hatte, musste sehen, wie er oder sie einen Platz im Zug ergatterte. Die Leute drängten sich im Abteil, auf dem Gang, draußen auf den Puffern, selbst auf den Dächern. Noch der Bahnhof Leinefelde, weiß Gott kein Großstadt-Bahnhof, war damals schwarz von Menschen, die auf einen Zug warteten. Oder hier kampierten, um wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben. 

Und was die Gefahr anging: Herr Ludwig, ein Bekannter von uns, verschwand 1946 spurlos auf der Rückfahrt von Limburg nach Wiesbaden. Er hatte kurz vor Limburg einen Rucksack Mehl aufgetrieben (›geschrottelt‹, wie man damals sagte) und genau dieses Mehl wurde ihm zum Verhängnis. Erst Wochen nach seinem Verschwinden wurde er bei Camberg in einer Sandkiste der Eisenbahn gefunden, mit eingeschlagenem Schädel und ohne Rucksack.   

Unter solchen Umständen kam für meine Mutter eine Rückreise mit der Bahn nicht infrage. Sie allein mit zwei Kindern, Gepäck und Essen für mindestens zwei, drei Tage – wie sollte das gehen? Aber irgendwann zwischen Ostern 1945 und Anfang Juli ‘45 (am 10. Juli erfolgte der Einmarsch sowjetischer Truppen in Leinefelde) sind wir mit einem Lastwagen, der bei Dyckerhoff in Biebrich Ware holen sollte, nach Wiesbaden zurückgekehrt. Wie meine Mutter von dem Lastwagen erfahren hat, weiß ich nicht mehr, wenn ich es überhaupt je gewusst habe. Jedenfalls, dass es eine Möglichkeit geben sollte, durchgehend von Leinefelde nach Biebrich zu fahren, grenzte an ein Wunder. Eines Tages war’s soweit: Wir verabschiedeten uns von Tante und Onkel, bei denen wir fast ein Jahr verbracht hatten, und warteten ab acht Uhr in der Nähe des Bahnhofs auf den versprochenen Lastwagen. Wir warteten bis in den späten Nachmittag und als der Lastwagen (an den ich längst nicht mehr glaubte) kam, war er voll besetzt. Auf der Ladefläche waren Bänke (in der Art von Äppelwoi-Bänken) montiert und darauf saßen viele Leute, die uns nicht gerade mit Hallo empfingen. Als sie rausfanden, dass meine Mutter keine Passierscheine hatte, wurde uns ein schlimmes Schicksal angedroht. Vor jedem Kontrollpunkt sagten uns die Mitreisenden voraus: »Hier kommt ihr nicht durch! Jetzt kommt die schlimmste Kontrolle von allen«! Ein Scharfmacher versuchte die Mitreisenden gegen meine Mutter aufzuwiegeln: Leute ohne Papiere; mitgefangen, mitgehangen und so weiter. Meine Mutter ließ sich nicht einschüchtern, aber ich. Ich war bald überzeugt, ich würde erschossen (das war die durchgängige Angst meiner Kindheit), schloss mehrfach mit dem Leben ab und kam doch durch. 

Eine Kontrolle passierten wir, weil meine Schwester, damals ein Baby, anfing zu weinen – der amerikanische Soldat, der die Plane hochhob, erkannte die Situation und winkte uns einfach durch. Er kontrollierte nicht nur uns nicht, sondern auch nicht die Übrigen, die Papiere hatten! Aus dramaturgischen Gründen wäre es nun schön, wenn ich sagen könnte: Es war der erste schwarze Mensch, den ich sah. War nicht so … Ich habe ihn, ehrlich gesagt, im Regen und der Dunkelheit draußen und auf dem Wagen überhaupt nicht gesehen oder nur als Schemen. Egal. Ich war noch einmal mit dem Leben davon gekommen. 

Das nächste Wunder: Nachts hielt der Wagen im völlig zerstörten Kassel. Ab 22 Uhr war Sperrstunde, bis 5 Uhr in der Früh durfte sich niemand im Freien aufhalten. Wo ein Dach über dem Kopf herbekommen? Angeblich gab’s einen stehengebliebenen Hochbunker, in dem man übernachten konnte. Angeblich. Aber wo war der Hochbunker? Als meine Mutter noch zögerte, mit allem Gepäck loszuziehen und den Bunker  zu suchen, wurde sie von einer Frau angesprochen. Diese hatte ihr Kind bei einem Bombenangriff verloren, es war verbrannt, auch das Gesicht der Frau war vom Feuer entstellt. Aus Mitleid lud sie uns ein, bei ihr zu übernachten. Wie dankbar bin ich ihr noch heute…   

Man kann’s nicht anders sagen: Wir kamen ohne dramatische Vorfälle nach Wiesbaden – und als wir da waren, war unser Haus in der Gottfried-Kinkel-Straße von oben bis unten voll ›besetzt‹ von Verwandten und deren engsten Bekannten. Das Hotel meiner Großmutter Geisbergstraße Nr. 8 – es hieß ›Hotel Brüsseler Hof‹ und wurde später Schauplatz meines Romans ›Hotel Petersburger Hof‹ – war beschlagnahmt worden: für weibliche Angehörige der US. Army. Meine Großmutter hatte nun das Sagen im Haus; für meine Mutter brach eine kritische Zeit an.         

 

3. Familienleben   

Bevor wir uns 1944 nach Leinefelde in Thüringen ›abgesetzt‹ hatte, hatte meine Mutter einige Zimmer ihres Hauses an ›möblierte Herren‹ vermietet, wie der Fachausdruck damals lautete. 

Ich erinnere mich an einen japanischen Wissenschaftler, der in Biebrich arbeitete, und an einen Gestapo-Menschen, der sich im Allgemeinen sehr freundlich gab. Allerdings schockierte er meine Mutter, als er auf ihr gutgemeintes ›Frohe Weihnachten‹ antwortete: »Was habe ich denn mit dem Judenbengel zu tun«? 

Nun, im Sommer 1945, kehrten wir aus dem von den Amerikanern besetzten Leinefelde ins amerikanisch besetzte Wiesbaden zurück. Die möblierten Herren waren nicht mehr da, dafür alles, was wir an Verwandten hatten – die beiden Brüder meines Vaters, ihre Frauen, meinen einzigen Cousin Georg, genannt ›Schorschemännchen‹, im Unterschied zu seinem Vater Georg, ›der große Schorsch‹. Vor allem aber war meine Großmutter da, mit ihrer rechten Hand, ihrer Nichte Anna, die ihr Tag und Nacht zu Diensten war.   

Mein Cousin war sechs Jahre älter als ich (damals sieben) und redete schon wie ein Erwachsener. Von ihm lernte ich das Wort ›Entnazifizierung‹ und was es bedeutete. Die ›Entnazifizierung‹ war das große Problem dieser Jahre. Jedermann musste auf Anordnung der Amerikaner einen in Deutsch und Englisch gehaltenen, schrecklich eng bedruckten Fragebogen ausfüllen.Mit insgesamt 13 Millionen Fragebögen zu je 131 Fragen wollte die Besatzungsmacht überprüfen, wer in ihrer Zone das nationalsozialistische Regime aktiv unterstützt hatte. Wer sich bei den Nazis engagiert hatte, verlor seinen Posten, musste sein Geschäft aufgeben (es ging an einen Treuhänder, der es in der Regel nie wieder herausrückte) oder wanderte, im schlimmsten Fall, in ein Internierungslager. 

Der Streit zwischen dem ›großen Schorsch‹ und seinem Sohn, unterstützt von meiner Großmutter (»Hör doch einmal auf das, was man dir sagt!«) ging nun darum, dass mein Onkel Georg sozusagen mit blütenweißer Weste aus der Nazizeit gekommen war und er ‘was aus diesem Glücksumstand machen sollte. Wenn man ›Schorschie‹ hörte, standen seinem Vater nun alle Türen offen. Das Mindeste, was er werden konnte: Chef der Endkontrolle bei Opel in Rüsselsheim. Das war nicht einfach aus der Luft gegriffen; mein Onkel Georg hatte tatsächlich während des gesamten Krieges dort als Prüfingenieur gearbeitet und war bis ans Ende seines Lebens stolz darauf, dass er einen Fehler von 0,02 Zentimeter Abweichung entdeckt hatte. Mein Onkel ließ sich jedoch nicht überreden, fuhr nicht einmal nach Rüsselsheim, um dort nach dem Rechten zu sehen. Er glaubte einfach nicht an die Wiedergeburt einer deutschen Autoindustrie; mochte Opel nun General Motors gehören oder nicht. Wer sollte je wieder das Geld für einen eigenen Wagen aufbringen? Und wer sollte die Straßen für diese Autos bauen? Wollte etwa ›Schorschemännchen‹ die vielen Brücken wieder aufbauen, dass es wieder zu einem geordneten Verkehrsnetz kam? Siehste! Zum Schluss ging mein Onkel in die Landesverwaltung, wurde dort Beamter unter vielen, und mein Vetter schüttelte, solang er lebte, darüber den Kopf. 

Wie hatte er Recht gehabt und sein Vater Unrecht!   

Seltsamerweise kann ich mich nicht an Hunger als Dauerzustand erinnern. 1945, 1946, 1947 waren die schlimmsten Jahre in Deutschland seit dem Dreißigjährigen Krieg, mit extrem kalten Wintern. Der Rhein fror zu und die Schiffe mit den US-Hilfslieferungen lagen in den Häfen fest; die Nahrungsversorgung brach zusammen. Die ›Zuteilungen‹ der Behörden reichten nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Eher zum Sterben. Menschen verhungerten und erfroren in ihren ungeheizten Wohnungen. Wir ernährten uns aus unserem Garten hinter dem Haus; ich bin mit Kartoffel- und Gemüsesuppe aufgewachsen (ich glaube, es gab jeden Tag vor und nach der Schule Suppe) und war einundzwanzig, als ich das erste Huhn meines Lebens aß. Eine Weile wurde ein Schwein in der Waschküche dick und rund gefüttert. Man musste immer Angst haben, deswegen von einem missgünstigen Nachbarn angezeigt zu werden. Das Schwein wurde ›schwarz‹ geschlachtet – nie vorher und nie nachher habe ich das Schlachten eines Schweins miterlebt, und ich kann mich auch nur an die ›Metzelsupp‹ erinnern, die es anschließend gab. 

Umso dankbarer war man für jede Hilfe der Amerikaner. In der Gärtnerei Gabler nahe des auch nicht mehr existierenden Ausflugslokals ›Rheinhöhe‹ verteilten Soldaten von Armeelastwagen herab Büchsenmilch, Süßkartoffeln aus großen Kanistern, Maismehl. Was es auch gab, es wurde dankbar akzeptiert. Einmal, ein einziges Mal, bekamen wir ein Care-Paket – es musste im Pfarrhaus der St. Kilians-Kirche abgeholt werden, und als wir es dann aufmachten, war es, als sei es vom Himmel geschickt worden. Es enthielt Mehl und Fett und Schokolade, Milch- und Eipulver, Corned Beef und vor allem Zigaretten. Die teilten sich meine beiden Onkel Georg und Willy: Der Eine, Georg, nutzte sie als Tauschmittel, besorgte sich damit auf dem Schwarzmarkt in der Langgasse, was er am dringendsten brauchte – was zum Anziehen – und der Andere, Willy, rauchte die Zigaretten. Alle nahmen das stumm und staunend zur Kenntnis. Es war, als würde er vor unseren Augen seinen Reichtum verbrennen. 

Wie wir an das Paket gekommen sind – ich weiß es nicht. Ich bewundere die gesamte CARE-Aktion noch heute. Wie kamen wildfremde Amerikaner unmittelbar nach dem Krieg und nachdem sie erfahren hatten, was sich in den KZs abgespielt hatten, dazu, uns und Hunderttausenden anderer Deutschen ein solches Paket zu schicken? Sie mussten immerhin 15 Dollar dafür auf den Tisch legen, zu der Zeit eine sehr stattliche Summe, und es waren mit Sicherheit nicht die Millionäre, die ein solches Paket verschenkten.         

 

4. Erziehungsfragen und Werwölfe   

Ab Herbst ‘45 ging ich wieder zur Schule – zum zweiten Mal in die 1. Klasse. Mehr als ein halbes Jahr hatte es keinen Unterricht gegeben. 

Kurz vor Kriegsende war für mich (und für alle übrigen deutschen Schulkinder) die Schule zu Ende. Die Amerikaner ordneten an, dass in Zukunft nur Lehrer unterrichteten, die nicht ›mitgemacht‹ hatten. Die mussten aber erst mal gefunden werden! In meiner Erinnerung sind die meisten meiner Lehrer alte Männer; wahrscheinlich war’s sogar so. Die jungen Lehrer, auch die Männer im besten Mannesalter waren ›im Krieg geblieben‹, andere in Gefangenschaft. Es gab zwar auch damals Lehrerinnen, merkwürdigerweise aber nur sehr wenige.   

Mein Neuanfang in der 1. Klasse fand in der Diesterweg-Schule an der Waldstraße statt; im Prinzip sah sie damals so aus wie heute: Hohe, einschüchternde Räume aus der Wilhelminischen Zeit und entsprechende Treppen. Viele Jahre nach meiner Zeit in der Diesterweg-Schule habe ich dort aus meinem sehr persönlichen Roman ›Hotel Petersburger Hof‹ gelesen. Nach der Lesung sprach mich der Lehrer an, der mir bei meinem zweiten Anlauf, Lesen und Schreiben zu lernen, zur Seite gestanden hatte. Wir wechselten einige freundliche Worte. Leider war zu viel Gedränge; ich hätte ihn gern gefragt, welche Erinnerungen er an diese ferne Zeit noch hatte. Waren Erstklässler immer Erstklässler, unter allen Regimen, ging’s nur um A und O oder wurden sie vom ersten Tag an mit bestimmten Werten ›indoktriniert‹? Und war er immer Lehrer gewesen oder erst durch die Umstände nach dem Krieg dazu geworden? Und was ich ebenfalls nicht besprechen konnte, was mich aber interessiert hätte:  Wusste er damals, dass die Amerikaner das deutsche Schulsystem von Grund auf umstellen wollten? 

Die Besatzungsmacht wollte eine demokratische Schule mit gleichen Chancen für alle; die traditionelle Dreigliedrigkeit sollte durch eine Einheitsschule ersetzt werden. Die Amerikaner waren in der Nachkriegszeit zwar mächtig, aber nicht allmächtig. Gegen das deutsche Bürgertum, das unbedingt sein ›gegliedertes‹ Schulsystem behalten wollte, kamen sie nicht an. Auf die Order des Militärgouverneurs Clay vom 10. Januar 1947, das deutsche Schulsystem endlich umzugestalten, reagierte der hessische Kultusminister Stein (CDU) mit einem Entwurf, der in einigen Punkten amerikanischen Vorstellungen entsprach; von einer gemeinsamen sechsjährigen Grundschule war allerdings nicht die Rede. Daraufhin ordnete die Militärregierung deren Einführung für den August 1948 an. Stein und die Landesregierung reagierten wieder mit der bewährten Verzögerungstaktik. Mit der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 und der Einführung des Besatzungsstatuts endete dann die Kompetenz der US-Militärregierung in Erziehungsfragen. 

Wie viele Streitigkeiten wären der deutschen Politik erspart geblieben, hätten sich die Amerikaner durchgesetzt.   

Ich glaube nicht, dass sich damals irgendjemand in unserer Familie über solche Probleme Gedanken machte. Alle waren mit den Alltagssorgen beschäftigt. Wie schwer war es allein, Tinte oder Schulhefte aufzutreiben! Ab der zweiten Klasse musste man als Schüler die Tinte mitbringen, die in das, in die Schulbank eingelassene, Tintenfass gehörte. Meine Mutter stellte die Tinte selbst her; wenn ich es richtig in Erinnerung habe aus Baumrinde, Ruß und Wasser. Auf alle Fälle kamen auch rostige Nägel in den Topf, in dem das Gebräu kochte. Die Hefte bestanden aus zurechtgeschnittenem Papier und wurden mit Nadel und Faden zusammengenäht. 

So hätte denn meine Schullaufbahn ihren ruhigen Lauf nehmen können, wäre nicht eines Tages eine Katastrophe eingetreten: Ich kam aus der Schule, die ganze Familie war aufgeregt wie ein Bienenscharm, der man den Bienenkorb weggenommen hat – unser Haus war wie viele andere auf der Biebricher Höhe beschlagnahmt worden. Innerhalb einiger Stunden musste das Haus geräumt und verlassen werden. Wie meine Mutter den Umzug mit einem einzigen Leiterwagen bewerkstelligt hat, kann ich mir heute noch nicht erklären. Dabei hat sie ja nicht alles stehen und liegen lassen. Sie rettete schwere eichene Möbel, das überdimensionale Sofa und die gewaltigen Sessel aus dem ›Herrenzimmer‹ und selbst noch den gewaltigen ausziehbaren Tisch mit seinen zwölf Stühlen. Die Möbel brachte sie bei verschiedenen Bekannten und Freunden unter; die Sessel haben wir später zurückbekommen, das Sofa nicht.   

Unser ganzes Viertel wurde mit meterhohen Stacheldrahtzäunen umgeben, es gab ein gewaltiges Tor am Eingang der Gottfried-Kinkel-Straße und Wachen mit Schusswaffen patrouillierten. Aber die Amerikaner zogen nicht sofort in die beschlagnahmten Häuser. Ein paar Tage oder ein paar Wochen lang standen sie leer. Eines Abends überredete mich mein älterer Vetter ›Schorschemännchen‹, der geborene Anführer und immer voller merkwürdiger Einfälle, das geräumte Viertel zu besuchen. Als wir hinkamen, war kein Mensch zu sehen, nicht mal die polnischen Wachposten. Mein Cousin fand einen Durchschlupf, plötzlich waren wir hinter dem Zaun und er wies mich an, so viele Steine wie möglich in die Hosentaschen zu stecken. Mit diesen Steinen in der Hand und in den Taschen zogen wir dann durch die menschenleere Goethestraße, den heutigen Gallierweg, und warfen Haus für Haus alle Scheiben ein – unsere Rache für die Vertreibung aus unserem Zuhause. Das Scheibeneinwerfen selbst machte mir nicht den geringsten Spaß; ich fürchtete unablässig die MP, die gleich auftauchen und uns verhaften würde. Mein Vetter genoss die Aktion. Wenn ich es recht bedenke, war er der einzige Werwolf in Wiesbaden, mit dem die Amerikaner es je zu tun bekamen.         

 

5. Währungsreform  

Im Frühsommer 1946 wurde unser Haus auf der Biebricher Höhe von den Amerikanern beschlagnahmt. Es war innerhalb weniger Stunden zu räumen und gegen jede Wahrscheinlichkeit schaffte meine Mutter das auch. Wir kamen bei Bekannten meiner Großmutter in der Moritzstraße unter – jeweils ein Zimmer im ersten und zweiten Stock und eine Mansarde unter dem Dach. Hier befand sich auch die Toilette, der ›Abort‹, wie die gängige Bezeichnung dafür war. 

Für die damaligen Zeiten wohnten wir komfortabel: Meine Großmutter und ihre Nichte Anna, immer ein Herz und eine Seele, schliefen im 1. Stock, meine Mutter mit meiner kleinen Schwester im zweiten, ich in der Dachkammer. Hier wurde auch gekocht. Ein Nachbar in der gegenüberliegenden Mansarde ernährte sich von Weinbergschnecken; es stank bestialisch, wenn er sie zubereitete. Und noch etwas machte ihn unvergesslich für mich: Er arbeitete als Totengräber auf dem Südfriedhof und baute da hinter den letzten Grabreihen Kartoffeln an. Manchmal, sehr selten, gab er davon welche ab; dafür hatten wir ihm noch lange nach der Währungsreform dankbar zu sein.   

Meine Schule war nun die Hebbel-Schule; wenn man hinkam, gab’s entweder Unterricht oder auch nicht. An vielen Tagen wurde die ganze Klasse wieder nach Hause geschickt; wir hatten nachmittags wiederzukommen. Oder der Unterricht fand an diesem Tag oder in dieser Woche in einer anderen Schule statt, im Gymnasium an der Oranienstraße etwa oder an der Lutherkirche. Der Wechsel der Schule bei gleichen Lehrern war so selbstverständlich wie Wind und Wetter; es war eben so und wurde auch nicht weiter besprochen. 

Wichtig war etwas Anderes: Man durfte auf keinen Fall die Schulspeisung versäumen. Die gab’s in der großen Pause im Hof der jeweiligen Schule; Löffel und ein Essgefäß waren mitzubringen. Meistens gab‘s dicke Suppen oder einen nahrhaften Brei; manchmal zusätzlich ein Stück Schokolade. Für viele Kinder – und für viele Lehrer auch – war dies die einzige richtige Mahlzeit am Tag. Ich werde nie vergessen, wie ungeduldig die Lehrer warteten, bis der letzte Schüler sein Essen hatte. Erst dann waren sie dran; für sie gab’s buchstäblich, was übrig blieb. Viel Würde ließ man den Lehrkräften nicht … 

Wer konnte, musste ein paar Groschen für die Schulspeisung zahlen, aber im Grunde war sie ein Geschenk der Amerikaner. Die Idee, die unterernährten deutschen Kinder mit Essen aus den Armeebeständen aufzupäppeln, stammte vom amerikanischen Ex-Präsidenten Herbert Hoover und entsprechend wurde die Schulspeisung in der Wochenschau konsequent ›Hoover-Speisung‹ genannt. Als ich den Ausdruck zum ersten Mal hörte, wusste ich überhaupt nicht, wovon die Rede war, wiewohl ich an jedem Schultag zu den Nutznießern gehörte.   

Apropos Kino. Unsere Vertreibung von der beschaulichen Biebricher Höhe ins Zentrum der Stadt hatte auch ihre guten Seiten. Im Nebenhaus war das Apollo-Kino und damals war die Vorführkabine noch unmittelbar an der Straße. An heißen Tagen öffnete der Vorführer seine Stahl-Sicherheitstür und man konnte wenigstens mithören, was gerade lief. Mit dem Vorführer des Capitol-Kinos am Kureck (es hatte den Krieg ohne Fassade und Foyer überlebt) verstand ich mich noch besser. Einige Male durfte ich die steile Eisenleiter zu seinem Vorführraum hochklettern und den laufenden Film durch ein kleines Fenster in der Wand verfolgen. Und noch einen Satz über meine Kinoleidenschaft, die bis heute angehalten hat: In der Rheinstraße gab es ein Flohkino namens ›Union‹, vielleicht fünfzig, sechzig Plätze und eine verspiegelte Discoleuchte als Attraktion. Hier habe ich den Abenteuerfilm ›Der Herr der sieben Meere‹ mindestens sieben Mal gesehen. ›Die Wendeltreppe‹, ein Hitchcock-Klassiker, hat mich buchstäblich aufs Krankenbett geworden. Nach dem (Horror)-Film war ich zwei Tage krank. Und was hat das nun alles mit den Amerikanern  zu tun? Ich habe mir in der Regel amerikanische Filme ›reingezogen‹, wie die Jugendlichen das heute nennen. Und zwar alles, was flimmerte: Ich kannte mich schon damals in der Unterwelt von Chicago genauso aus wie in der Upperclass von New York mit ihren schönen Frauen und verschwiegenen Chauffeuren.   

In der Moritzstraße erlebte ich auch die Währungsreform. Als ich am Samstagabend ins Bett ging, war das Schaufenster des Kürschnerladens auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Luke so lang wie ein ausgestreckter Arm und halb so hoch. Meistens lagen hier verstaubte Reklameseiten aus amerikanischen Magazinen, in denen die Modells Pelze trugen. Ansonsten war das Fenster zugemauert. Als ich am nächsten Morgen, es war Sonntag, der 20. Juni 1948, aufstand, hatte der Laden eine richtige Scheibe und dahinter waren fünf, sechs Pelzmäntel auf Puppen drapiert. An diesem Tag endete der Schwarzmarkt, von nun an waren Zigaretten nur noch Zigaretten; es war, als sei der Krieg an diesem Tag zu Ende gegangen. Bis Samstag, 19. Juni, leere Läden, am 20. Juni eine Fülle in den Geschäften, die die Kinder stumm machte und die Erwachsenen an die Vorkriegszeit erinnerte. 

Das neue Geld wurde da ausgegeben, wo es sonst die Lebensmittelmarken gab – jeder hätte mit verbundenen Augen dorthin gefunden. Man musste die ›Kennkarte‹ vorzeigen und Reichsmark hinlegen, dann griff der zuständige Mensch hinter sich, nahm aus einer Holzkiste das neue Geld und zählte die neuen Scheine vor. Das Geld hatte ein merkwürdig amerikanisches Aussehen; die Frankfurter Allgemeine schrieb später zu Recht, die ersten Geldscheine hätten gewirkt »wie eine Mickey-Mouse-Version des Dollar, ihres Patenonkels«. 

Tatsächlich war ja die ganze Aktion Währungsumstellung von den Amerikanern initiiert und durchgezogen worden. Die Deutschen fühlten sich als Verlierer und ließen die Angelegenheit über sich ergehen. Nach einer Umfrage des Instituts Allensbach glaubten 88 Prozent der Deutschen damals nicht an den Erfolg des neuen Geldes. Meine Mutter setzte dementsprechend gleich einen Großteil des ›Kopfgeldes‹ in Eis um: wir leisteten uns sogar sündhaft teure Schiffchen ›Bananensplit‹.         

 

6.  Luftbrücke   

Seltsamerweise waren meine Familie und damit auch ich Profiteure der ›Berliner Luftbrücke‹, des ›Big Lift‹, wie die Amerikaner ihre heroische Leistung nannten. Wir waren zwar nicht direkt betroffen; wurden keinen Tag lang aus der Luft versorgt. Wir profitierten vielmehr indirekt von dem welthistorischen Ereignis – durch’s Matratzenvermieten, um es in der Sprache meiner Großmutter zu sagen. 

Wem dies zu kryptisch ist, es geht auch einfacher: Das 40-Betten-Hotel meiner Großmutter – es hieß ›Hotel Brüsseler Hof‹, heute ›Hotel Admiral‹ und gehört nicht mehr unserer Familie – befand sich in der Geisbergstraße 8, keine fünfzig Meter vom Hauptquartier der Luftbrücke an der Ecke Taunusstraße und Geisbergstraße entfernt. Durch den ungeheuren Auftrieb, den die Luftbrücke Wiesbaden brachte, gab’s in der ganzen Stadt keine freien Betten. Auch meine Großmutter konnte ihre Matratzen mindestens zweimal am Tag vermieten, der Traum eines jeden Hoteliers.     

Am 20. Juni 1948 hatten die drei West- Alliierten in ihren Zonen die Deutsche Mark eingeführt. Als Reaktion darauf unterbrach die Sowjetunion vier Tage später alle Landtransporte nach Westberlin. Mit dieser Aktion wollten die Sowjets die sich abzeichnende Gründung eines westdeutschen Staates (eines Staates, auf den sie voraussichtlich wenig oder keinen Einfluss haben würden) verhindern. Und sollte das nicht möglich sein, wollten sie wenigstens den Rückzug der drei Westalliierten aus Berlin durchsetzen. Mit einem solchen Dolch im Herzen würde ihr zweiter deutscher Staat niemals lebensfähig werden; würde für alle Zeiten von Moskau abhängig sein. Einen Tag nach Beginn der Blockade gab der US-Militärgouverneur Lucius D. Clay den Befehl, eine Luftbrücke zur Versorgung der eingekesselten Westberliner einzurichten. Das hörte sich erst mal wie ein Hirngespinst an und wurde selbst von seinem Stab so eingeschätzt. Wo sollte die US Air Force so viele Maschinen und so viele Piloten hernehmen, um eine Millionenstadt mit Lebensmitteln, Brennstoffen, ja, mit allem, was zum Leben gehört, durch Flugzeuge zu versorgen? Schließlich gab es im Sommer 1948 weder in West- noch in Ost-Berlin irgendwelche nennenswerten Vorräte; die Berliner hatten sogar schon ihren Tiergarten geplündert und seine Bäume verfeuert. Wie sollte man allein so viel Kohle und Briketts nach Berlin schaffen, dass sich die Leute auch nur Feuer im Herd machen konnten, von den Nahrungsmitteln selbst gar nicht zu sprechen? Gleichgültig, am 25. Juni 1948 starteten die ersten beiden B17-Bomber vom Flugplatz Wiesbaden-Erbenheim (damals und jetzt ›Air Base Erbenheim‹) und brachten zehn Tonnen Hilfsgüter ins eingeschlossene West-Berlin. 

Damit begann das größte Transportunternehmen der Weltgeschichte. Bei seinem Unterfangen setzte Clay auf den einzigen Mann, dem er zutraute, die Aufgabe zu lösen, auf Generalmajor William Tunner, einen genialer Organisator. Tunner hatte schon während des Krieges Chiang Kai-shek’s Truppen mit Munition und Waffen versorgt, von Indien aus und über den Himalaya. Sein Hauptquartier richtete Tunner in der Taunusstraße 11 ein, im ehemaligen Hotel ›Hamburger Hof‹ an der Ecke Geisbergstraße. Beim Start hatte Tunner nur zwanzig Transportspezialisten um sich. Im Laufe der Zeit wuchs die Zahl seines Stabs auf über vierhundert Personen. Insgesamt waren am Ende 56 000 Mann in irgendeiner Weise mit der Luftbrücke beschäftigt, einschließlich der deutschen Monteure, die auf dem Flugplatz Erbenheim die Maschinen warteten. 

Die ›Luftbrücke‹ funktioniere bald wie ein Förderband. Bei Tag und Nacht, werktags und sonntags und bei jedem Wetter wurde geflogen. In Wiesbaden schliefen die erschöpften Piloten, wo man nur ein Bett für sie unterbringen konnte: In Zelten und Baracken auf dem Flugplatz Erbenheim, in requirierten Hotels rund um den Kochbrunnen, auch im damals noch existierenden Neroberg-Hotel (schöne Aussicht, aber weiter Weg zur Maschine). Ich würde nun gern erzählen, dass ich diese Helden der Lüfte aus nächster Nähe im Hotel meiner Großmutter gesehen hätte, kann ich aber nicht, wenn ich bei der Wahrheit bleiben will. Entweder erinnere ich mich nicht an sie oder sie schliefen woanders. 

Ich erinnere mich jedoch sehr gut an den Trubel, der mit übermäßigen Vermieterei verbunden war; die Wäscherei Renson konnte gar nicht so oft frische Wäsche bringen, wie sie gebraucht wurde. So wurde ein Teil der Wäsche wieder wie zur Zeit der Jahrhundertwende in einem gewaltigen Kessel in der Waschküche gewaschen und mit einer großen ›Mangel‹ im Keller bzw. in einer Bügelanstalt auf der anderen Straßenseite geplättet. Dafür war im wahrsten Sinne des Wortes ein großes Rad zu drehen.   

An die Luftbrücke werde ich fast täglich erinnert, weil ich nun in Berlin nur wenige Schritte vom ›Platz der Luftbrücke‹ entfernt wohne. Dort ist der Einstieg in die U-Bahn und die Haltestelle der Buslinie 104. Der Platz selbst ist eigentlich nur eine riesige Straßenkreuzung. An einer Seite, vor dem Haupteingang des ehemaligen Flughafens Tempelhof, befindet sich allerdings ein gar nicht so kleiner Park; für Berliner Verhältnisse wird er sehr gepflegt. In diesem Park, gewissermaßen mit dem Rücken zum Flughafeneingang, steht das in seiner Klarheit und Monumentalität sehr überzeugende Luftbrücken-Denkmal. Sein Gegenstück kann man am Rand des Frankfurter Flughafens betrachten. Am Fuß des Berliner Denkmals werden die Namen der mehr als siebzig Toten (samt ihrem Rang) genannt, die die Luftbrücke gefordert hat – gestorben bei Abstürzen und durch Abstürze. Es ist keine vier Wochen her, dass ich einen mächtigen Reisebus sah, der am Rand des kleinen Parks anhielt; eine große Gruppe alter Männer stieg aus, ging zum Denkmal. Die alten Herren nahmen dort militärisch Aufstellung, grüßten militärisch und jemand sprach anschließend ein paar Worte. Als er fertig war, klappte eine junge Frau, die bis jetzt lesend auf einer Bank gesessen hatte, ihr Buch zu, stand auf, ging zu der Gruppe und drückte einem der überraschten Männer die Hand. Sie bedankte sich dafür , was er und seine Kameraden vor mehr als einem halben Jahrhundert für die Stadt und die Deutschen geleistet hatten.           

 

7. American Way of Life   

Anfang der fünfziger Jahre wurde das Haus meiner Mutter in der Gottfried-Kinkel-Straße wieder ›freigegeben‹; die Besatzungszeit war für uns zu Ende. Als Erstes ging meine Mutter einmal inspizierend durchs Haus. Es war in passablen Zustand, vor allem, wenn man bedachte, dass die Amerikaner hier eine ›Mess Hall‹, also eine Kantine, für ihre auf der Biebricher Höhe beschäftigten Hilfskräfte unterhalten hatten. Meine Mutter sagte jedoch kein Wort, lieh sich von Nachbarn ein Beil aus und schlug anschließend alle Fliegengitter, die die Amerikaner vor die Fenster gesetzt hatten, aus ihren Rahmen. Es waren viele Fenster und entsprechend viele Fliegengitter, die nachher im Garten lagen. 

In den folgenden Wochen ließ meine Mutter ihr Haus herrichten und umwandeln und eröffnete es als Pension ›Villa Elisabeth‹. Nun wurden der Internisten-Kongress, die HAFA und die Uhrenmesse der DUGENA unsere hohen Feiertage. Meine Mutter hatte aber auch erstaunlich viele amerikanische Gäste. Zum Teil, weil sie als ›Zivilamerikaner‹ etwas in Wiesbaden zu tun hatten, zum anderen Teil, weil sie Verwandte oder Bekannte im US-Hospital am heutigen Konrad-Adenauer-Ring besuchten. 

Es war aber auch die Zeit, als die hier stationierten Amerikaner Deutschland als Land der Schlösser und Schnitzel entdeckten. Ein Dollar war vier Mark vierzig wert; nachher sank der Kurs auf ein Dollar gleich vier Mark, bis er in den Siebzigern fiel und fiel und die Taxifahrer am Ende eins zu eins umrechneten. (Und die Barmädchen auch.) 

Jetzt, am Anfang der Fünfziger, waren aber für die Amerikaner die guten alten Zeiten, als ein Mittagessen in einem guten Restaurant fünf, sechs Mark kostete und eine Übernachtung bei meiner Mutter 18 Mark plus Bedienung. Selbst die Kuckucksuhren in der größten Kuckucksuhr der Welt waren zu Schnäppchenpreise zu haben. Benzin war selbst für Deutsche billig, für Amerikaner in Uniform und an ihren Militärtankstellen kostete es so gut wie nichts. Deutschland war also damals für wenig Geld zu entdecken und die Amerikaner nahmen das Angebot gerne wahr. 

Gäste meiner Mutter nahmen mich in ihren ›Amischlitten‹ mit an die Mosel, nach Heidelberg und in die Pfalz und umgekehrt bewährte ich mich als Reiseführer, führte durch die Kaiserdome in Worms und Speyer. Ein anderes Mal lernte ich bei einem solchen Ausflug Schloss Mespelbrunn (›Das Spukschloss im Spessart‹) kennen. Damals war der Spessart wirklich noch hinter den sieben Bergen, eine Autobahn gab’s nicht; die Fahrt und die Rückfahrt nahmen kein Ende. 

Durch solche Kontakte gelangte ich auch einmal (leider nur ein einziges Mal) in die ›PX‹ am Mauritiusplatz, einem Supermarkt der Armee. Für Deutsche war er ›off limits‹. Doch selbst, wenn man hätte reingehen dürfen, hätte man nicht kaufen können, hier wurden nur Militärbons angenommen. Nicht mal ›Zivilamerikaner‹ wurden hier bedient. Das Haus selbst war ein Prachtbau aus der Kaiserzeit, mit eleganten Treppen und bleiverglasten bunten Fenstern und wurde später abgerissen. Ich habe den Besuch dort auch deshalb in so guter Erinnerung, weil mir die Bekannten eine Wendejacke schenkten, eine Wetterjacke, eine Seite Nylon (braun) und die andere Seite helle Baumwolle (dezent kariert) und im Ganzen nach meiner Ansicht todschick. Damals kam die Mode ja aus Amerika; wie elegant etwa die langen, engen Röcke der Damen, die sogenannten Bleistiftröcke. Herren gingen nie ohne Hut und imitierten Humphrey Bogart. 

Mit meinem modischen Outfit war’s ansonsten nicht weit her, muss ich bekennen. Ich hatte damals nicht eine einzige ›Nietenhose‹, wie die Blue Jeans abfällig eingedeutscht wurden. Als Elvis Presley stilbildend wurde, war ich in einem kirchlichen Internat, dort wären zu kurze Röhrenjeans zu Ringelsöckchen niemals geduldet worden. Ich besaß auch nie eine schwarze Lederjacke oder eins der weißen T-Shirts, die damals absolut trendy waren. Klar, ich war auch ein Fan von Marlon Brando, so etwas wie ›Endstation Sehnsucht‹ und nachher ›Die Faust im Nacken‹ hatte ich zuvor noch nie gesehen (und das trotz meiner Kinosucht), dennoch wäre ich doch nicht auf die Idee gekommen, im Unterhemd herumzulaufen. 

Nein, ich war in meiner Kindheit und Jugend der gediegene ältere Herr; ich meine, ich bin erst in meinen Dreißigern langsam aufgetaut. Beides hat allerdings nichts mit den Amerikanern zu tun. Deswegen wenigstens noch eins von meinen zahlreichen Kinoerlebnissen und zwar eins, in dem die Amerikaner mitspielen. Eine junge hübsche Australierin auf Weltreise hatte im US Hospital (am jetzigen 2. Ring) Arbeit gefunden und wohnte in der Pension meiner Mutter. Eines Tages fragte sie mich, ob ich nicht Lust hätte, mit ihr ins Kino zu gehen. Selbstverständlich hatte ich Lust. Sie, die sympathische junge Australierin, wusste, dass im ›Ufa im Park‹ ein Film lief, der sehr gut sein sollte: ›Sabrina‹ mit Audrey Hepburn und William Holden. Nur: das Ufa im Park, Wiesbadens ehemaliges Prachtkino, war zu der Zeit noch voll in amerikanischer Hand, weder Deutsche noch Australier ohne Militärdollars wurden hier eingelassen. Meine Begleiterin verhandelte nun so lange mit dem Mann an der Kasse, bis der einsah, dass es wirklich keinen Unterschied machte, ob der Film mit oder ohne uns gespielt wurde. Wir kamen rein und ich sah das Ufa-Kino wieder, das ich 1944 im Alter von sechs zum letzten Mal besucht hatte. Damals lief dort ein Filmwerk mit Hertha Feiler, auch eine sympathische Schauspielerin. 

Das Ufa (heute ›Caligari‹) sah damals und zu Beginn der Fünfziger aus wie jetzt, nur der Haupteingang war an der Wilhelmstraße und der heutige Eingang war der Notausgang. So ändern sich die Zeiten.         

 

8. Das Amerikahaus   

Wenn ich über meine frühen Jahre mit den Amerikanern schreibe, darf ich zwei Institutionen auf keinen Fall auslassen, das ›Amerikahaus‹ an der Bierstädter Straße und die wunderbare kulturpolitische Zeitschrift ›Der Monat‹, gesponsert von der CIA. Ich besaß, abgesehen von ersten vier Nummern, alle Ausgaben des ›Monats‹ bis 1971, als er eingestellt wurde. Bei meinem Umzug nach Berlin habe ich mich von meinen gesammelten Schätzen getrennt, nach der Überlegung: Du hast die Hefte so lange nicht mehr in der Hand gehabt. Der Phantomschmerz sitzt tief …   

Doch der Reihe nach, erst mal einige Worte über das Amerikahaus. 1947 hatte die Besatzungsmacht in einer beschlagnahmten Villa ein ›Amerikahaus‹ eingerichtet, ein Zentrum von Kultur und Information. Es verfügte wie jedes dieser Häuser über eine Freihand-Bibliothek (so etwas hatte es in Deutschland vorher nicht gegeben) und die notwendigen Einrichtungen, um Englisch zu lernen, Musik oder Vorträge zu hören und Filme zu sehen. Die Umerziehung der vom Nationalsozialismus geprägten Bevölkerung und die Vermittlung demokratischer Werte sollte nicht nur in Politik und Verwaltung, sondern auch durch kulturelle Angebote gefördert werden. Die politischen Ziele der Amerikahäuser umfassten außerdem die Verbreitung von Informationen über die USA als Welt-, Wirtschafts- und Kulturmacht, die Einbindung Westdeutschlands in das westliche Bündnissystem (»to foster the assimilation of the German people into the society of peaceful nations«) und das Eintreten für ein vereintes und freies Europa. Ein wirklich großes Programm und erstaunlicherweise gelang es den Amerikanern, es zu verwirklichen.   

Ich weiß nicht mehr, wann ich zum ersten Mal davon erfahren habe – 1947 auf keinen Fall. 1950 war ich zwölf, spätestens da war ich regelmäßiger ›Nutzer‹ der Bibliothek des Hauses. Vorher hatte ich die Bücher, die mich interessierten, vor allem in der Stadtbibliothek in der Schützenhofstraße ausgeliehen. Das war eine umständliche Angelegenheit und hatte immer etwas von einer Prüfung nach dem Motto: Können wir diesem Knaben ein solches Buch anvertrauen? Dagegen hier: Ohne besondere Genehmigung überheblicher Bibliothekare beziehungsweise von misstrauischen Bibliothekarinnen durften man die Bücher aus den Regalen nehmen, darin schmökern und sie anschließend entweder zurückstellen oder mitnehmen. Leserausweise gab es kostenlos, maximal fünf Bücher durften für zwei Wochen ausgeliehen werden.   

Selbstverständlich gab es vor allem amerikanische Literatur, aber nicht nur. Doch wie aufregend waren die Romane, die da – im Original und in Übersetzungen – angeboten wurden. Neben den ›Klassikern‹ Herman Melville, Walt Whitman und Mark Twain standen die Vertreter der neuen und neuesten amerikanischen Literatur, Autoren wie Thomas Wolfe, Ernest Hemingway, William Faulkner, John Steinbeck und Thornton Wilder. 

Thornton Wilder und seine ›Kleine Stadt‹ gehörten sowieso zu den Nachkriegsjahren wie der Wind und das Wetter. Wenn ich mich nicht sehr irre, brauchte man nur das Radio einzuschalten und schon kam wieder etwas von Thornton Wilder, etwa ›Die Brücke von San Luis Rey‹, ›Die Iden des März‹,vor allem aber ›Wir sind noch einmal davongekommen‹. Wer’s nicht ganz so hochliterarisch haben wollte, für den gab’s auch ›Vom Winde verweht‹, ›Buffalo Bill‹ oder ›Das Atom: Endlich verständlich!‹.   

Das Wiesbadener Amerikahaus bot von Anfang an ein Programm, das sich um die in Deutschland beliebte Unterscheidung von ›E‹ und ›U‹ – von Hochkultur und populärer Kultur – wenig Gedanken machte. Das Programm richtete sich an alle Altersgruppen und alle soziale Schichten, lange bevor das Motto ›Kultur für Alle‹ aufkam. An der Bierstädter Straße gab‘s Ausstellungen, Vorträge, Filme und Musik. Darüber hinaus gab es auch Live-Konzerte: amerikanischen Nachwuchskünstlern dienten Tourneen durch die Amerikahäuser als Karrieresprungbrett. Das Wiesbadener Haus beschränkte sich nicht nur auf die Präsentation amerikanischer Künstler und Themen. Auch vom Nazi-Regime unterdrückte und verfolgte Schriftsteller, Künstler und Musiker wie Franz Kafka, Paul Klee oder Paul Hindemith wurden vorgestellt. 

Für die zeitgenössischen Künstler war das Haus an der Bierstädter Straße ein Born der Freude. Hier wurde gezeigt, was niemand sonst zeigte – etwa in der NS-Zeit politisch verfemte Künstler wie der 1941 in Wiesbaden verstorbene Alexej von Jawlensky, aber auch die aufstrebende Künstlergruppe ›Zen 49‹, eine Gruppe von sieben, später sehr renommierten Malern und einer Bildhauerin, die Deutschland mit der ›gegenstandslosen‹ Kunst vertraut machten.

 Und auch nicht unwichtig: Das Haus besaß moderne Technik, so dass man auf praktische Weise, Englisch lernen konnte! Hätte ich doch nur davon Gebrauch gemacht, statt mich in der Schule damit rumzuplagen. Und was für mich Film- und Kino-Narr fast ebenso wichtig war wie die Bücherei war das Filmprogramm und der Filmclub des Hauses. Ich weiß noch, wie stolz ich war, wenn ich von  Max Lippmann, dem Mann, der das Filmprogramm gestaltete, nach Vorführung und Diskussion eingeladen wurde, im kleinen Kreis der Auserwählten (beispielsweise im ›Hotel Klee‹ weiterzureden. Vielleicht hat er damals schon über sein abenteuerliches Leben gesprochen, eigentlich kann ich mich nicht daran erinnern. Jedenfalls erfuhr ich später, er hatte als junger Mann für den Breslauer Rundfunk gearbeitet, war 1933 nach Prag emigriert, dann nach Paris, wo er von der Vichy-Regierung nach Algerien deportiert wurde. Nach seiner Befreiung lebte er in London und wieder in Paris. Ab 1949 war er dann in Wiesbaden, wo er viel für die ›Filmstadt Wiesbaden‹ erreichte.   

Tja, und was den ›Monat‹ angeht, zitiere ich, um‘s mir leicht zu machen, Wikipedia: »Unter anderem schrieben für den Monat die Autoren Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Raymond Aron, Saul Bellow, Heinrich Böll, Milovan Djilas, T. S. Eliot, Max Frisch, Hermann Kesten, Arthur Koestler, Irving Kristol, Richard Löwenthal, Peter Härtling, Thomas Mann, Peter de Mendelssohn, George Orwell, Hans Sahl, Ignazio Silone und Hilde Spiel.« Im Monat habe ich den ersten Vorabdruck der ›Blechtrommel‹ gelesen; niemals hat mich Günter Grass mehr beeindruckt als mit diesen ersten Seiten aus seinem großen Werk.         

 

9. Meine Amerikanisierung   

Ich weiß, wo und wann ich mein erstes Bier getrunken habe – vor dem Bahnhof Landesdenkmal auf der Biebricher Höhe; damals existierte dort eine typische Bahnhofsgaststätte mit Bänken und Sonnenschirmen. Das war 1952, ich war vierzehn und nach dem ersten Glas sozusagen volljährig. 

Ich kann aber bei bestem Willen nicht sagen, wann und wo ich das erste Coca-Cola getrunken habe. Dabei habe ich mein Leben lang weitaus mehr Cola als Bier getrunken, grob geschätzt fünf zu eins, und wenn ich darüber nachdenke, steht ›die braune Brause‹, wie man früher gern abfällig über den Welterfolg aus Amerika herzog, für meine Amerikanisierung. 

Mich hat AFN nicht erreicht, weder Pop noch Rock. Ich war nie verrückt nach gekochten oder gerösteten Maiskolben. Hershey-Sirup aus der Dose, na ja, hin und wieder mal, und das pflegeleichte bügelfreie Nylon-Hemd, das Ende der fünfziger Jahre Furore machte, war mir ein Graus – man schwitzte darin wie Sau und es klebte nach zehn Minuten am Körper. Ich war nicht einen Tag lang ein ›Halbstarker‹ und gehörte auch nie zur ›Generation der zornigen jungen Männer‹ à la James Dean oder Marlon Brando. 

Nein, für mich war Coca-Cola erfunden worden, jeder Schluck schmeckte wie der letzte und der nächste und das Werbeversprechen, dass man es eiskalt bekommen würde, wurde stets hundertprozentig eingehalten. Heute ist es kein Kunststück, Dinge zu kühlen, kalt zu halten und eiskalt zu servieren. Damals, als ich von The Coca-Cola Company, Atlanta, Georgia, ›angefixt‹ wurde, war das anders. Noch am Ende der vierziger Jahre und zu Beginn der Fünfziger wurde meiner Großmutter Stangeneis ins Haus beziehungsweise ins Hotel geliefert – in pferdegezogenen Kastenwagen, die innen mit Zinnblech ausgeschlagen waren. Sehr kräftige Männer mit Lederschutz über den Schultern trugen die Stangen in die Küche, dort wurden sie in zwei Teile zerschlagen und der Eisschrank damit aufgefüllt. 

Aller Wahrscheinlichkeit habe ich hier, in der Hotelküche meiner Großmutter, die erste Flasche der braunen Versuchung getrunken. Sie hielt ja immer welches für ihre amerikanischen Gäste parat, Deutsche nahmen das Zeug ja noch nicht ernst. Erwachsene tranken Bier oder Wein; auch bembelweise Äppelwoi, aber doch nicht eine braune schäumende Limonade. Das war ‘was für Kinder, und es gehörten eine Menge Arbeit und viele Anzeigen dazu, die Erwachsenen von dem Getränk zu überzeugen. Für Coca-Cola wurde im Radio geworben, im Kino, mit Plakaten und Leuchtschriften, vor allem aber in Zeitungen und Zeitschriften. In meiner Erinnerung ist jede zweite Seite von ›Das Beste aus Readers Digest‹ vollgeknallt mit Coca-Cola-Anzeigen.   

Die fünfziger Jahre waren für alle die Zeit des ›Wiederaufbaus‹, auch für Coca-Cola, wie ich jetzt gelernt habe. In einer Festschrift habe ich folgende Sätze gefunden: »Am 1. Mai 1950 fällt eine wesentliche Hürde für den Wiederaufbau des Geschäfts nach dem Krieg – das Ende der Zuckerbewirtschaftung. Coca-Cola kann ab sofort wieder uneingeschränkt produziert werden«. Wenn man sich mit der Geschichte der Nachkriegsjahre beschäftigt, kommt man um Coca-Cola nicht herum. Die ans Geniale grenzende Werbung der Firma drückte stets den Zeitgeist aus. Allein der Slogan ›Mach mal Pause – Coca-Cola‹. Man kann ganze Doktorarbeiten darüber schreiben. Das fängt schon damit an, dassder Slogan nach Silbenzahl und Rhythmus perfekt auf die Marke abgestimmt war. Die zweimal vier Silben waren jedermann vom Straßenhandel her vertraut. ›Hei ße Würst chen‹ oder ›Il lus trier te‹ hatte jeder im Ohr, da passte der neue Werbespruch perfekt. Wichtiger aber, er traf den Nerv der Zeit. Im wirtschaftswunderlich aufblühenden Deutschland arbeiten die Menschen sozusagen rund um die Uhr – tagsüber an der Arbeitsstelle, dann nach Feierabend am werdenden ›Eigenheim‹ oder ›schwarz‹. Die 48-Stunden-Woche wurde schon als Errungenschaft betrachtet. 

In einem Erbauungsbuch aus der Zeit heißt es: »Es scheint allmählich eine der ernstesten Zivilisationskrankheiten dieses Jahrhunderts zu werden, dass jeder ständig in Eile ist … Aus aller Munde tönt es unisono: Keine Zeit«. ›Mach mal Pause‹ lag da förmlich in der Luft. Man musste es nur erkennen und in Worte fassen.   

Mag’s Zufall sein oder eine Fügung des Weltgeistes, Tatsache ist, dass die Billy-Wilder-Satire ›Eins, Zwei, Drei‹, die beste Komödie über die deutsche Teilung, sich um Coca-Cola dreht. Mister C. R. MacNamara, ein Direktor der Firma, plant den Markt hinter dem Eisernen Vorhang zu erobern und kommt deswegen 1961 nach Berlin. Die Stadt ist zu der Zeit zwar geteilt, aber man kann noch nach Belieben zwischen den Sektoren hin- und herwechseln. Es hat nun keinen Sinn, alle komischen Verwicklungen zu beschreiben und die wunderbaren Gags , die in dem Film stecken. Schon während der Dreharbeiten verging allen das Lachen: Die Berliner Mauer wurde errichtet und am Ende der Dreharbeiten musste man in München-Geiselgasteig ein teures Brandenburger Tor nachbauen, um den Film zu Ende bringen zu können. Weder in den USA noch in Deutschland kam der Film bei seinem Erscheinen Ende 1961 an; erst Jahre später wurde er zum Hit und dies zu Recht.  

Jedes Mal, wenn ich auf heute am Ende der Leipziger Straße, früher Ost-Berlin, jetzt Mitte, eine riesige Coca-Cola-Reklame sehe, denke ich: Am Ende haben Billy Wilder, Coca-Cola und der Westen tatsächlich gesiegt. Und diesmal gehöre ich auch zu den Siegern.         

 

10. Mister President!   

Um es gleich zu sagen: Präsident John F. Kennedy war auch mein Held. Politisch bin ich in der Adenauer-Ära ›sozialisiert‹ worden; bis zu seinem Amtsverzicht im Oktober 1963 kannte ich nur einen Kanzler, Konrad Adenauer.   

Während dessen Amtszeit habe ich immerhin drei amerikanische Präsidenten erlebt, nämlich Truman, Eisenhower und Kennedy. Anfangs erfuhr ich von ihren Taten in der Wochenschau (Fernsehen gab’s für meine Familie damals noch nicht), später als Zeitungs- und ›Spiegel‹-Leser. Truman war für mich der Mann, der die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki angeordnet, aber auch die Blockade Berlins durchgestanden hatte. Während seiner Präsidentschaft begann die McCarthy-Ära, diese völlig unwürdige und völlig unamerikanische Hysterie, gespeist aus der irrationalen Angst vor den Kommunisten. 1950 griffen die USA auf Trumans Befehl in den Koreakrieg ein. Das schien zwar ein sehr ferner Krieg zu sein; die Deutschen stimmte er depressiv. Die Meisten fürchteten, in den nächsten Weltkrieg verwickelt zu werden – fünf Jahre, nachdem der letzte geendet hatte. Eine von Trumans großen Taten: Er ordnete an, die Rassentrennung in der amerikanischen Armee aufzuheben. Traurig genug, dass sie bis dahin bestanden hatte. Hundert Jahre nach dem amerikanischen Bürgerkrieg! 

›Ike’s Präsidentschaft – also die Präsidentschaft von General Dwight D. Eisenhower und damit eines weiteren alten Mannes an der Spitze des Staates – ließ den Kalten Krieg noch kälter werden. Und dann endlich, nach der scheinbar bleiernen Zeit der alten Füchse Adenauer und Eisenhower die Versprechen John F. Kennedy und Willy Brandt; für mich waren sie so etwas wie politische Brüder. Welch glänzenden Wahlkampf führte Kennedy! Wie elegant seine Frau Jacqueline! Welch strahlendes Familienglück! Damals war noch nicht die Rede von Marylin Monroe als heimlicher Geliebten (und wenn, hätte ich’s nicht geglaubt). Und niemand ahnte, welch schreckliche Schmerzen der Präsident Tag für Tag aushalten musste. Selbstverständlich, der Fehlstart in der Schweinebucht hätte einem sagen können, dass er Fehler im politischen Geschäft ebenso wenig zu vermeiden vermochte wie alle Anderen auch. Aber eigentlich verlor er nie seinen Nimbus.   

Im Januar 1961 hatte Kennedy sein Amt angetreten, im August baute die DDR mit Zustimmung und wohl auch auf Druck der Sowjet-Union ihre Mauer, und die USA hielten still. Man hätte meinen können, damit habe es einen tiefen Riss in den Beziehungen der West-Deutschen zu ihrem großen Verbündeten gegeben, sei Kennedys Ansehen bei den Deutschen ins Bodenlose gesunken. Seine große Deutschland-Reise zwei Jahre später, im Juni 1963, bewies das Gegenteil. Wo der Präsident auch hinkam, in Bonn, in Köln, auf dem Frankfurter Römerberg jubelten ihm die Menschen enthusiastisch zu. Anfangs wehrte sich Kennedy gegen die Begeisterung der Deutschen. Je länger die Freude aber anhielt, desto mehr gab er sich der Stimmung hin. 

Selbst im normalerweise temperierten  Wiesbaden waren die Menschen außer sich. Kennedy war am Dienstag, 25. Juni, um 18 Uhr 20 mit dem Hubschrauber vor dem General von Steuben-Hotel, dem heutigen Dorint-Hotel, gelandet, dann in Begleitung des deutschen Vizekanzlers Erhard mit einem offenen Lincoln langsam über die Wilhelmstraße zum Kurhaus gerollt, wo ihm die Hessische Landesregierung einen Staatsempfang gab. Die Straßen waren schwarz von Menschen und auf dem Bowling Green vor dem Kurhaus hätte man beim besten Willen nicht umfallen können, so viele Menschen drängten sich dort. Ich hatte angenommen, ich hätte gar keine Chance, Kennedy zu sehen, war aufs Geradewohl in die Stadt gegangen. Irgendwas muss ich falsch gemacht haben. Plötzlich stand ich unmittelbar hinter dem Absperrgitter an der Ecke Wilhelmstraße und Christian-Zais-Straße, als auch schon das Auto mit dem Präsidenten herankam. Weil der Wagen in dem Moment nur Schrittgeschwindigkeit fuhr, sahen der Präsidenten und ich uns für Sekunden an, sonst geschah nichts. 

Alles was mir von der Begegnung in Erinnerung geblieben ist, ist die Bräune des Präsidenten – braun, als ob er in Florida und Kalifornien gleichzeitig Urlaub gemacht habe. 

Am nächsten Tag flog er dann nach Berlin, wo er auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses, dem Amtssitz des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt, seine berühmte ›Ich bin ein Berliner‹-Rede hielt.   

Vor einigen Wochen, am Pfingstmontag, habe ich auf dem John-F. Kennedy-Platz vor dem imposanten Schöneberger Rathaus gesessen und an einem ökumenischen Gottesdienst teilgenommen. Die Predigt des (jedenfalls für mich) sehr ungewöhnlichen und sehr bunten Gottesdienstes hielt ein amerikanischer Pfarrer, der in Berlin eine anglikanische Gemeinde betreut. Er sprach sehr, sehr gut Deutsch, aber Kennedys berühmte, für die Berliner so wichtigen Sätze, sagte er mit derselben Betonung wie Kennedy selbst. Während des Gottesdienstes läutete minutenlang die weithin zu hörende Freiheitsglocke des Rathauses – mehr deutsch-amerikanische Sentiments sind kaum denkbar.   

PS: Zum Abschluss dieser Serie, in der ich so viele private Dinge ausgebreitet habe, noch eine Pointe. Es ist reiner Zufall, dass ich als Wiesbadener auf die Welt gekommen bin und nicht als New Yorker. Mein Vater, gelernter Koch, war nach dem Ersten Weltkrieg nach Amerika ausgewandert und hatte es New York bis in die Küche des Waldorf-Astoria-Hotels gebracht. Dann starb mein Großvater und mein Vater kehrte nach Wiesbaden zurück, weil er glaubte, meiner Großmutter bei der Führung ihres Hotels zur Seite stehen zu müssen; ein tragischer Irrtum. In New York wäre er wohl glücklicher geworden …