Mein Kiez

Biografisches

Ich wohne seit 2010, mithin seit elf Jahren und zwei Monaten, in Berlin, und während der ganzen Zeit in der Nähe der U-Bahn-Station Platz der Luftbrücke (samt Luftbrücken-Denkmal), des ehemaligen Zentralflughafens Tempelhof und des mittlerweile legendär gewordenen Tempelhofer Feldes. Ich bete darum, dass die anvisierte ›Randbebauung‹ des Feldes zu meinen Lebzeiten nicht kommt. Sie würde den Charakter des in seiner Art einmaligen Freizeitgeländes zerstören. Es ist unglaublich, welche Gefühle von Freiheit und Glück man bei Sonnenaufgang oder Untergang auf den ehemaligen Start- und Landebahnen spüren kann.

Nun, das Schöne am Kiez ist, dass jeder selbst bestimmen kann, wo er für ihn anfängt und aufhört. Man muss sich da an keinerlei amtlichen Vorgaben oder Grenzen halten. Deshalb beginnt mein Kiez manchmal an der Marheineckehalle, am Ende der an schönen Sommertagen von Touristen überlaufenen Bergmannstraße. Der ehrgeizige Baustadtrat des Bezirks Kreuzberg möchte aus der Straße ein Reservat für Fußgänger und Fahrradfahrer machen; seine bisherigen Versuche überzeugen nicht und was geplant ist, auch nicht. Die Marheineckehalle ist allerdings eine Markthalle, wie sie mein Herz hat. So was kannte ich bis zu meinem Umzug nach Berlin nur aus Frankfurt oder Stuttgart; und natürlich aus Frankreich. Da hatte jede kleine Stadt eine solche Markthalle. Die Marheineckehalle (benannt nach einem zu seiner Zeit sehr bekannten Theologen) wurde 1892 zur Versorgung der Bevölkerung gebaut und 2007 wieder so hergerichtet, wie sie ursprünglich ausgesehen hatte. Früher gab es in Berlin vierzehn solcher Markthallen; nur einige wenige haben überlebt.

Früher liegt bei mir meistens schon Jahrzehnte zurück. Insofern kann ich mich nicht beschweren, dass vieles verschwunden ist, was ich einmal kannte und liebte, einschließlich der Zehn-Pfennig-Kinoprogramme, der Zwanzig-Pfennig-Eistüte und der Serbischen Bohnensuppe für eine Mark bei Horten, später Galeria Horten. Noch später wurde daraus Galeria Kaufhof, aber da gab’s keine Serbische Bohnensuppe mehr.

Was nun meinen Kiez angeht, so würde ich an den meisten Tagen eigentlich nur die Manfred-von-Richthofen-Straße und einige Straßen rechts oder links davon so bezeichnen. Die Häuser, die hier stehen, wurden zum großen Teil um die Jahrhundertwende von 1900 angelegt; bürgerlich, repräsentativ, mit eigenen Eingängen und Treppenhäusern fürs Personal und für die Ewigkeit gedacht. Viele der Offiziere, die ihre Soldaten auf dem Tempelhofer Feld exerzieren ließen (spätestens ab 1914 starteten und landeten sie dort ihre Flugzeuge), wohnten in diesen Häusern. Entsprechend war diese Ecke der Stadt lange nur unter dem Namen ›Flieger-Viertel‹ bekannt. Manfred von Richthofen, nach dem meine Straße benannt ist, war der legendäre Rote Baron, ein Held des Ersten Weltkriegs. In der Richthofen-Apotheke unten im Haus hängt ein Bild seines berühmten Dreideckers und am Rand des früheren Flugfeldes gibt es einen Friedhof, in dem die Offiziere und Mannschaften der Kriegszeppeline des Ersten Weltkriegs bestattet sind. Diese Zeppeline konnten Höhen bis zu achttausend Meter erreichen! Kein Flugzeug konnte ihnen dahin folgen. Umso anfälliger waren sie, wenn sie runter mussten.

In Berlin gibt’s die Redensart: Er kommt nie aus seinem Kiez raus! Ich komme zwar raus, aber ich müsste nicht. Ich könnte hier leben und sterben, alles ist da. Um die Ecke befindet sich das St. Joseph Krankenhaus. Hier werden jedes Jahr rund 75 000 Patienten ambulant und stationär behandelt; da hätte man wohl auch für mich ein Bett. Ein paar Schritte davon entfernt befindet sich der Bahnhof Südkreuz, der sich zu einem zweiten Hauptbahnhof entwickelt. Man kann von hier aus stündlich mit ICE’s nach Hamburg oder München fahren; von Südkreuz gibt’s auch schnelle direkte Verbindungen zum neuen Berliner Flughafen BER, diesem Unglücksflughafen.

In der Manfred-von-Richthofen-Straße selbst existieren zwischen dem Platz der Luftbrücke und dem Adolf-Scheidt-Platz auf vierhundert, fünfhundert Meter Länge mehrere Bäckereien (einschließlich der Hofpfisterei aus München) und, zur Verwunderung meiner Bekannten, auch ein Fleischer vom alten Schlag. Er ist für seine Bratwürste berühmt und wird für diese Bratwürste auch regelmäßig ausgezeichnet. Desweiteren gibt’s hier einen Optiker, einen Fahrradladen, einen Schuster, mehrere Wäscherei-Annahmen, eine Post-Agentur und Bankautomaten. Als ich hier einzog, waren das noch ausgewachsene Bankfilialen; zählt auch schon zu früher. Es gibt hier mehrere Eisdielen; eine ist nur so breit wie eine Tür, andere an heißen Sommertagen Hausfrauentreffpunkt. Das Eis ist hier wie da erstklassig. Man kann in der Straße den ersten Spargel der Saison kaufen, tagesfrische Erdbeeren, Kirschen und im Herbst Steinpilze und Maronen. Es gibt asiatische und italienische Restaurants und solche mit sehr gemischtem Programm. Es gibt einen Juwelier, ein Geschäft für Hörgeräte, ein Sanitätshaus und eine Buchhandlung. Sie hat auch während der Corona-Epidemie geöffnet; weil in Berlin der Buchhandel dem Lebensmittelhandel gleichgestellt ist. Desweiteren existiert hier ein Laden, in dem alte Kisten zu Möbeln verarbeitet werden und glücklicherweise auch EP:Fischer electronic, der Fachhändler meines Vertrauens. Hier habe ich vom Kühlschrank bis zum Waffeleisen alles gekauft, was man für Haus und Küche braucht, einschließlich Staubsauger, Telefonanlage und Fernsehapparat.

Der Regierende Bürgermeister ist im Viertel geboren und lebt immer noch hier; die Buchdruckerei seines Vaters befindet sich um die Ecke. Sie ist nun sein Wahlkreisbüro. Früher konnte ich zusehen, wenn er morgens ins Amt fuhr und abends zurückkam. Vor einigen Jahren ist er umgezogen und wohnt nun einige Schritte entfernt in dem Haus, in dem für Berlin der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Hier wurde die Kapitulationsurkunde unterschrieben. Wenn ich ihn treffen wollte, den Regierenden, müsste ich nur samstags in den Lottoladen gehen, in dem er seinen Lottoschein abgibt. Geschieht aber nicht; so etwas würde in der Straße als ungehörig empfunden. Wir haben übrigens zwei Lottoläden hier, auch ausreichend Nagelstudios, einen Butter-Lindner, verschiedene türkische Lebensmittelläden und Blumengeschäfte. Und die beiden Spätis sollten auch nicht vergessen werden, diese spezielle Berliner Institution.

Was das Haus angeht, in dem ich wohne – erbaut 1912, zum Teil Wohnungen mit 350 Quadratmeter Wohnfläche; in jedem Fall sehr hohe Decken, die noch den originalen Stuck tragen –, so ist dies ein Universum in sich. Im Erdgeschoss gibt es zwei Kindergärten, einer mit einheimischen Tempelhofer Kindern und ein zweiter, der vor einigen Jahren vom Kreuzberger Chamissoplatz vertrieben wurde und der Kreuzberger Kinder aufzieht. Das sind zwei Welten, Wand an Wand. Die Kreuzberger Kinder werden von ihren radfahrenden Eltern mit einer Höflichkeit angesprochen, dass die Ortansässigen nur die Augen verdrehen. So was gibt’s tatsächlich, scheinen sie stets aufs Neue zu denken. Dabei muss man wissen, dass die Bezirke Kreuzberg und Tempelhof unmittelbare Nachbarn sind; die Dudenstraße, die die Grenze zwischen den Bezirken bildet, ist die Parallelstraße zur Manfred-von-Richthofen-Straße. Insofern wissen die Einen was sie von den Anderen zu halten haben; allem Anschein nach ist das nicht viel.  

Im Haus, in dem ich wohne, gibt es Anwaltskanzleien; eine Filmfirma ist gerade ausgezogen, die Räume sind aber schon wieder vermietet. Es gibt Internisten, Fuß- und Ohrenärzte, einen Psychiater und mehrere Psychiaterinnen. Eine Zahnärztin, die gern Kuchen backt, wohnt hier, hat aber ihre Praxis in einem anderen Stadtteil. Trotzdem bin ich ihr treuer und dankbarer Patient. Mit mehreren Menschen im Haus habe ich mich im Laufe der Zeit angefreundet; einer von ihnen, ein bekannter Bildhauer, ist vollkommen unerwartet und gewissermaßen vor unseren Augen gestorben. Es war ein Schock.

Zum hundertjährigen Bestehen des Hauses gab’s ein Hoffest; das erste und einzige, das je hier gefeiert wurde. Man kann den Hof nur von den Kellern aus erreichen, insofern wird er nicht genutzt und nicht bepflanzt. Einzig eine überdimensionale Akazie wächst hier. Sie ist mittlerweile so groß und so verwachsen, dass Industriekletterer sie schneiden müssen. Meine Schlafzimmerfenster gehen zu diesem Hof; so ruhig habe ich noch nie gewohnt und noch nie geschlafen; selbst auf dem Land und am Waldrand ist es nach meiner Erfahrung wesentlich lauter.    

Insgesamt lebt es sich, so wie ich es kennengelernt habe, in einem Kiez wie in einem Dorf. Jeder weiß was vom Anderen und jeder achtet auch auf den Anderen; das Ganze geschieht aber so diskret und beiläufig, dass das Großstadtgefühl nicht verloren geht. Es ist, allem in allem, eine sehr eigene, dabei aber sehr angenehme Lebensart.

Wobei der Begriff Kiez, der so alt und so eingewachsen klingt, erst seit den siebziger, achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts benutzt wird, anfangs in West-, dann auch in Ost-Berlin. Jeder Berlin-Führer erzählt von den Kietzen (mit tz), die es schon zur Slawen-Zeit hier gab. Als geschätzte Heimat, als Viertel, in dem man sich zu Hause fühlt, wird der Begriff aber erst seit dreißig, vierzig Jahren benutzt. Ursprünglich war er negativ besetzt; vor der Umwandlung des Wortes umfasste ein Kiez nur Berliner Bürgerhäuser mit dunklen Hinterhäusern und Hinterhöfen, sogenannte Mietskasernen, und die meisten davon waren in einem Zustand, dass die Stadtplanung sie abreißen wollte. Mittlerweile werden auch Neubau-Viertel von den Immobilienhändlern mit Begriffen wie Spandauer Wasserkiez geadelt. Das neue Quartier an Hauptbahnhof und Heidestraße taucht in den Zeitungen sogar als Milliarden-Kiez auf.

Man kann alles übertreiben.