Der Junge, der Angst hatte, erschossen zu werden

Biografisches

Hätte ich doch nur ein besseres Gedächtnis! Wäre dem so, könnte ich Memoiren schreiben; ich bin jetzt Mitte achtzig, also im richtigen Alter dazu.

Wie nützlich wäre es, hätte ich je Tagebuch geführt. Oder ich hätte Kalender aufgehoben mit Eintragungen wie: ›Heute mit G. in Kurpark; Rudern auf dem Kurhausweiher‹.

Habe ich aber alles nicht, deshalb bleiben die Memoiren ungeschrieben.

Nun, für einen Artikel reicht’s. Die allerwichtigsten Vorkommnisse haben sich mir eingeprägt, und es gibt eh‘ nur noch wenige Menschen, die mir widersprechen können. Außerdem: Schließlich kommt es bei solchen Erinnerungen auf den Geist der Zeit an, auf das, was gedacht, geredet und verschwiegen wurde, nicht auf die Stellen hinterm Komma.

Also, dann einige Erinnerungen an meine Kinder- und Jugendjahre, die Jahre von 1938 bis 1960.

Erst mal Fakten, deren ich mir sicher bin: Ich bin am 23. Juli 1938 geboren worden, in unserem Haus auf der Adolfshöhe, einem besonderen Viertel zwischen Wiesbaden und Biebrich mit Blick auf den Rhein; um die Jahrhundertwende von 1900 als ›Villencolonie‹ hochgezogen. Vor dem Krieg (damit ist immer der 2. Weltkrieg gemeint) waren Hausgeburten noch üblich. 

Meine Mutter hat mir oft erzählt, dass bei meiner Geburt um drei Uhr mittags in ihrer Heimatstadt Paderborn die Glocken läuteten. Zufällig begann dort gerade das Liborifest, das höchste Fest der Paderborner. 

Ist doch eigentlich ein recht poetischer Anfang. 

Oder?

Am besten erinnere ich mich an meine Mutter und meine Großmutter, die beiden wichtigsten Menschen meiner jungen Jahre. Ich sehe immer noch, wie sich bei meiner Mutter alle Haare auf dem Unterarm aufrichteten, wenn meine Großmutter sie berührte. 

Das zu den Gefühlen untereinander.

Meine Großmutter habe ich zur Heldin zweier Romane gemacht, ›Hotel Petersburger Hof‹ und ›Gute Jahre‹. Ich werde versuchen, einiges zu beschreiben, was ich noch nicht in den Büchern oder bei Lesungen geboten habe. In keinem Fall komme ich aber darum herum, ihre sehr besondere Art und ihr übergroßes Selbstbewusstsein zu schildern. 

Wie könnte ich vergessen, wie wir 1944 nach Leinefelde in Thüringen gelangten! Wiesbaden wurde immer öfter bombardiert, und wo gestern noch ein Haus gestanden hatte, war am nächsten Morgen eine Ruine und die Menschen, die dort gelebt hatten, waren tot. Meine Mutter wollte sich mit ihren beiden Kindern bei ihrem Bruder im beschaulich-ländlichen Leinefelde in Sicherheit bringen. Mein Onkel Hermann, ein Vollblutkaufmann mit weißer Schürze und dem damals typischen Bleistift hinterm Ohr, leitete dort eine Filiale einer Lebensmittelkette. Er wäre gerne Ortsgruppenleiter der NSDAP geworden, schaffte es aber nicht; nicht mal Ende 1944, als sich die Schlaueren absetzten und der Posten definitiv frei war. 

Meine Tante Lisbeth war sogar eine fanatische Nazi-Anhängerin. Ich sehe immer noch, wie hysterisch sie wurde, als im Radio die Nachricht kam, Hitler sei in Berlin im Straßenkampf gefallen. Dermaßen herzzerreißend hatte sie nicht geweint und nicht getrauert, als man ihr die Nachricht brachte, ihr Sohn sei in einem Gefecht umgekommen.

Aber ich wollte erzählen, wie wir nach Leinefelde gelangten. Es war im Sommer 1944 und der Frankfurter Hauptbahnhof war so voller Menschen, wie ich es weder vorher noch nachher je erlebt habe. Als der Zug, den wir nehmen wollten, endlich einlief, war er dermaßen überfüllt, dass die Reisenden durch die Fenster ‘rein- und rausklettern mussten. Wie sollten wir, meine Großmutter, meine Mutter mit meiner Schwester als Baby auf dem Arm, ich mit gerade mal sechs Jahren in diesen Zug kommen? 

Meine Großmutter regelte das. Sie kämpfte sich zu den beiden einzigen Waggons durch, in die die Menschen normal ein- und aussteigen konnten: Wagen, die für Offiziere reserviert waren und die von den Feldjägern (bekannt als ›Kettenhunde)‹ streng abgeschirmt wurden. Meine Großmutter schaffte es dennoch, Zutritt zu einem dieser Waggons zu bekommen, indem sie hoheitsvoll verkündete, wir reisten »im Auftrag eines Wehrmachtsangehörigen«. Damit war mein Vater gemeint, der es in sechs Jahren Krieg vom Gefreiten zum Obergefreiten gebracht hatte und der nun als vermisst galt. Mit ihrer Erklärung konnte sie die Militärpolizisten selbstverständlich nicht beeindrucken, aber einen Offizier, der mit diesem Zug reiste. Er sorgte dafür, dass wir in einem halbleeren Abteil unterkamen. Später behauptete meine Großmutter steif und fest, Hitler sei mit uns im Zug gefahren. Sie habe ihn klar erkannt. Ich kann dazu nichts sagen; ich kannte Hitler nicht so genau.

An die Monate in Leinefelde habe ich unterschiedliche Erinnerungen. Da war die (erste) Einschulung und das erste und letzte Ostereiersuchen, das ich je erlebt habe – an einem sonnigen Frühlingstag, auf einer wunderbar duftenden Frühlingswiese. In Leinefelde habe ich die ersten Amerikaner meines Lebens gesehen. Sie fuhren in langer Kolonne durch den Ort. In der Straße hinter dem Haus, in dem wir wohnten, kam die Kolonne zum Stehen. Es saßen jeweils drei Soldaten in einem Jeep mit herunter-geklappter Frontscheibe, zwei von ihnen hatten Karabiner zwischen den Beinen und der Dritte fuhr. Alle wirkten dermaßen entspannt, als seien sie auf einem Ausflug. Dabei hatte die Truppe noch vor ein paar Tagen im Ruhrgebiet gekämpft, und hart gekämpft. Selbst mir – noch nicht sieben Jahre alt – war auf den ersten Blick klar, dass da die Sieger saßen. Man sah es einfach. Noch am Vortag waren deutsche Soldaten durch Leinefelde gezogen – erschöpft, mutlos, in abgetragenen Uniformen und nun diese Männer. 

Ich selbst wurde von den Amerikanern in den ersten zehn Minuten korrumpiert; einer von ihnen winkte mich mit einem Mars-Riegel (es kann auch Bounty gewesen sein) heran. Ich ging nach kurzem Zögern zu ihm, nahm den Riegel und seitdem bin ich auf amerikanischer Seite. Selbst der Vietnam-Krieg hat mich nicht wankend gemacht. Bis heute spüre ich die Versuchung, die da lockte. Mir war klar, dass ich Fahnenflucht beging, wenn ich etwas aus der Hand des Feindes annahm. Mithin verriet ich den Führer, Tante Lisbeth und letzten Endes auch Onkel Hermann kalten Herzens und ohne Gewissensbisse. Das Dritte Reich war für mich in diesem Moment erledigt.

Die Zeit in Leinefelde war alles in allem nicht die angenehmste. Es gab viel Streit zwischen meiner Tante, die mich zu einem treudeutschen Jungen erziehen wollte, und meiner Mutter, die das nicht wollte. Und damit bin ich endlich bei meiner Mutter. Sie kam bisher in keinem meiner Texte vor oder nur am Rande. Da habe ich eine Schuld abzutragen. Meine Mutter war, wie ihre Schwiegermutter, ungewöhnlich mutig, hatte einen verschmitzten Humor und war durch und durch bürgerlich. Ihr Vater, mein Großvater, betrieb in Paderborn einen Gasthof namens ›Thüringer Hof‹ und besaß fünf Häuser, wie meine Mutter meiner Schwester und mir immer wieder vermittelte. Und zwar mit Wehmut in der Stimme, dass sie alle dahingegangen waren, die fünf Häuser. Immerhin war vom Wohlstand so viel geblieben, dass sie sich 1936, als sie in Wiesbaden heiratete, eine großbürgerliche Villa kaufen konnte, die sie später zu einer Pension machte – ›Villa Elisabeth‹.

Meine Mutter hat mich in allem unterstützt, was ich je wollte, aber wirklich in allem. Das fing mit den Weihnachtsmärchen im Staatstheater an und ging mit unserer gemeinsamen Liebe zum Kino weiter. Wenn ich nichts durcheinanderbringe, hatte ich mit sechs schon ›Die Drei von der Tankstelle‹ und ›Hitlerjunge Quex‹ gesehen und ›Die Feuerzangen-bowle‹ wohl auch. Lange glaubte ich, ich hätte im Ufa-Kino an der Wilhelmstraße auch bereits den Film ›Der Engel mit dem Saitenspiel‹ gesehen, Heinz Rühmann und seine Frau Hertha Feiler in den Hauptrollen. Aber ich habe nachgeschlagen: Der Film kam erst Ende 1944 heraus! Da waren wir in Leinefelde und dort gab’s kein Kino für mich. So kann man sich täuschen.

Wenn es auf der Leinwand zu gruselig wurde, beruhigte mich meine Mutter immer mit dem Satz: »Es ist nur Film«. Damit beschwichtige ich mich bis heute. Bei dem Siodmark-Thriller ›Die Wendeltreppe‹ (der Höhepunkt war der Schrei der Taubstummen) hat auch diese Weisheit nicht geholfen. Der berühmte Schrei am Ende des Films haute mich um. Danach lag ich drei Tage im Bett, verpasste alle Fastnachtstage, »fertig mit den Nerven«, wie meine Großmutter das nannte. 

Das war jedoch erst nach dem Krieg; da waren wir bereits wieder in Wiesbaden. 

Wir waren ›schwarz‹ nach Hause zurückgekehrt, heißt ohne Papiere. Das passierte kurz bevor die Russen in das bis dahin amerikanisch besetzte Thüringen einrückten, so, wie es in Potsdam vereinbart worden war. Danach gehörte Thüringen zur Kriegsbeute der Sowjet-Union; meine Mutter wollte jedoch nicht Kriegsbeute werden. Wir hatten Glück. Jemand erzählte uns, ein Lastwagen, der in Biebrich Material von Dyckerhoff Zement holen sollte, könnte uns mitnehmen. Als wir auf- und einsteigen wollten, war die Ladefläche schon voll von Menschen. Sie saßen auf Brettern, die man in Reihen hintereinander montiert hatte und wollten irgendwo unterwegs aussteigen. Als sich herausstellte, dass wir keine ›Passierscheine‹ hatten, gerieten wir – meine Mutter, meine einjährige Schwester und ich – sofort ins Kreuzfeuer. Am liebsten hätte man uns auf der Stelle rausgeworfen. Damals, im Mai 1945, musste man einen von der Besatzungsmacht ausgestellten Passierschein haben, wenn man seinen Wohnort und die unmittelbare Umgebung verlassen wollte. In allen vier Besatzungszonen gab es (geschätzt) alle fünfzig Kilometer Kontrollstellen. Man wurde in Lager gebracht, wenn man ohne gültige Papiere angetroffen wurde. Die Mitreisenden fürchteten, wohl nicht zu Unrecht, es ginge nach dem Motto ab: Mitgefangen, mitgehangen, und daran waren sie nicht interessiert.

Die Fahrt verlief jedoch wesentlich reibungsloser als befürchtet. Bei allen Kontrollen drückten die amerikanischen Soldaten ein Auge zu. Einmal, da war es finsterste Nacht und es regnete in Strömen, wurde meine Schwester wach und weinte und darauf winkte der kontrollierende Soldat ab und ließ uns weiterfahren.

Als wir zurückkehrten, lebte die gesamte Verwandtschaft im Haus Gottfried-Kinkel-Straße 1, mithin im Haus meiner Mutter: Meine Großmutter mit Tante Anna, ihrer rechten Hand. Dann mein Onkel Georg (auf hessisch: ›Schorch‹), seine Frau Elfie, sein Junge (mein Vetter) Georg. Bis zu seinem frühen Lebensende (Alkohol!) wurde er nur ›das Schorschemännchen‹ genannt. Desweiteren waren Onkel Willy mit seiner Frau Hanny bei uns untergekommen. Und das alles, weil der ›Brüsseler Hof‹, das Hotel meiner Großmutter von den Amerikanern beschlagnahmt worden war; die US-Air Force quartierte da weibliche Armeeangehörige ein. 

Wie schon angedeutet, das Verhältnis zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter war nicht das beste; das zwischen Onkel Georg und seinem Bruder Willy aber auch nicht. Manchmal gingen sie mit Messern aufeinander los. Blut floss allerdings nie; jeder Streit wurde wie von Gotteshand im letzten Augenblick unterbunden.

Das passierte so lange, bis auch unser Haus beschlagnahmt wurde. Als ich morgens in die Schule ging (Diesterwegschule, zum zweiten Mal 1. Klasse; diesmal ohne Hitlerbild an der Wand), hatten wir noch ein Haus. Als ich zurückkam, waren alle mit Einpacken und Ausziehen beschäftigt. Bis 17 Uhr war das gesamte Haus zu räumen. 

Erst Jahrzehnte danach ging mir auf, dass ich dadurch genauso Heimatvertriebener mit allen seelischen Schäden wurde wie die Leute, die man aus Pommern oder Schlesien verjagt hatte. 

Die Erkenntnis kam mir erst vor wenigen Monaten; da traf ich mich mit einem Spielkameraden aus meiner Kindheit. Er wohnte damals in der Rheinblickstraße, wir in der Gottfried-Kinkel-Straße, sozusagen Rücken an Rücken. Wir hatten am Zaun einen Sommerpavillon, seine Eltern dort eine Pergola. Wichtiger war etwas anderes: Unsere Grundstücksgrenze war die Grenze des Biebricher Teils der Adolfshöhe, des Villenviertels, wo wir wohnten und wo ich geboren worden war. Und genau diesen Biebricher Teil beschlagnahmten die Amerikaner, weil sie die Häuser brauchten. Hatten sie doch Wiesbaden zur Hauptstadt von Großhessen gemacht und entsprechend mussten sie weiteres Personal in der sowieso schon überfüllten Stadt unterbringen. 

Beim Vergleich unserer beiden Lebensläufe, der meines Jugendfreundes und meines, wurde mir bewusst, mein Freund hatte seine gesamten jungen Jahre zu Hause verbracht. Ich verlor am Tag der Beschlagnahme unseres Hauses alle Sicherheit, alles Vertrauen in die Zukunft. Entsprechend lebte ich das Leben eines Spielers. Zufälle bestimmten mein ganzes Leben, und jeder Zufall wurde als Gottesurteil genommen; nie in Frage gestellt, selten revidiert. 

Immerhin eine Konstante gibt es in meinem Leben: Ich wollte immer schreiben, seit meinem zehnten Lebensjahr, und ich habe immer geschrieben.

Ich wolle an dieser Stelle eigentlich von meiner Mutter erzählen, nicht von mir. So lange sie lebte, hat sie sich Vorwürfe gemacht, dass sie ihren Mann, meinen Vater, wegen eines Ehestreits dazu gebracht hatte, sich freiwillig für den Zweiten Weltkrieg zu melden unmittelbar vor Weihnachten 1939 wurde er eingezogen, ab Mitte 1940 kämpfte dann in Frankreich, danach über Jahre ›im Osten‹. Dabei stieg er wie erwähnt zum Obergefreiten auf. 

Bedeutet aber nicht mit Sicherheit, dass er nicht auch in die Verbrechen der Wehrmacht verstrickt war. Ich habe in Weißrussland in verschiedenen Wäldern Massengräber besucht. Die Toten, die hier verscharrt waren, waren von gewöhnlichen Soldaten auf Befehl ihrer Offiziere erschossen worden. Die Vernichtungslager dort – Belzec, Sobibor und Treblinka – habe ich auch gesehen. Sie wirken heute so friedlich, dass man viel Mühe hat, sich vorzustellen, was sich hier ereignete.

Wahrscheinlich kam mein Vater im Juni 1944 im ›Raum Bobruisk‹ um, im heutigen Belarus und mit Blick auf die Beresina. Alle Wahrsagerinnen, die meine Großmutter seinetwegen befragte (einschließlich der prominenten Buchela; angeblich legte sie auch Adenauer die Karten), versicherten ihr, er kehre mit Sicherheit aus Russland zurück. Er sei da leider gegenwärtig unabkömmlich. Wenn man den Weibern glaubte, war er anfangs irgendwie medizinisch tätig, später in der Raketentechnik.

Er kam nie wieder und wurde lange amtlich als ›vermisst‹ geführt.

Ich selbst habe nur zwei oder drei Bilder von meinem Vater im Kopf. Einmal schießt er mit einem Gewehr im Garten hinter unserem Haus auf eine Flasche und trifft sie. Und einmal … Nein, mein Vater hat in meinem Leben keine Rolle gespielt, und ich musste sehr alt werden, bis ich mich für ihn interessierte. 

Was den Brüsseler Hof angeht, so wurde er zum Glück relativ früh von den Amerikanern wieder ›freigegeben‹. Hat uns sehr geholfen, durch die schlechte Zeit zu kommen. Dadurch wurden wir zum Beispiel Nutznießer der Berliner Blockade: Das Hauptquartier der ›Luftbrücke‹ befand sich auf der Taunusstraße, Ecke Geisbergstraße, etwa fünfzig Meter vom Hotel meiner Großmutter entfernt. Da es in Wiesbaden so gut wie keine freien Hotelbetten für die vielen Hilfskräfte der Aktion ›Big Lift‹ gab, wurden die Matratzen des Brüsseler Hofs in Schichten vermietet. Die Wäscherei Renson konnte gar nicht so viel Wäsche liefern, wie gebraucht wurde. Entsprechend wurde im Keller gewaschen und in einer ›Bügelanstalt‹ auf der anderen Straßenseite ›gemangelt‹. Ich kam ganz gut mit der riesigen Mangel zurecht.

Damit bin ich wieder bei den Bezugspersonen meiner jungen Jahre, bei meine Onkeln Georg und Willy und ihren Frauen. Kaum hatten die Amerikaner den Brüsseler Hof geräumt, wohnten sie wieder dort, wo sie immer gewohnt hatten – hier. Der Eine, Onkel Georg, kam mir immer als Versager vor, als Flasche, wie man damals sagte. Vor unserer aller Augen ließ er sich von seiner Frau Elfie Hörner aufsetzen. Jeder wusste, was es bedeutete, wenn sie aufgeputzt, als wollte sie zum Tanztee, das Haus verließ. 

Über den Liebhaber wurde in aller Offenheit hergezogen. Er hatte während des Krieges einen Posten in einem Beschaffungsamt der Wehrmacht; nach dem Krieg war er im ›Versorgungsamt‹ unterge-kommen. Fett schwimmt eben immer oben. 

Allerdings hat er es nur einmal gewagt, sich in die Räume von Tante Elfie und Onkel Schorsch im Dachgeschoss zu schleichen, in die Zimmer 25 und 26 unterm Dach. Meine Großmutter jagte ihn buchstäblich mit einem Teppichklopfer aus dem Haus. 

Die Liebschaft zog sich über Jahre hin, und Jahrzehnte später fand ich im Nachlass meines Onkels Bündel von Liebesbriefen zwischen ihm und ihr. In der Kommode meines Onkels! Ich habe die Briefe nicht gelesen, aber sie sahen sehr zerlesen aus. 

Übrigens erkannte ich erst in seinen letzten Monaten (da war ich selbst schon Anfang fünfzig und als sein ›Pfleger‹ bestellt), dass ich ihn stets völlig falsch gesehen hatte. Er war viel interessanter, als ich je vermutet hätte. 

Opel Rüsselsheim, wo er über Jahre als Prüfingenieur tätig war, hatte ihn mit einer ansehnlichen Prämie bedacht, als er einen vertrackten Fehler gefunden hatte, der bei der Produktion entstanden war. Und der Kapellmeister des sehr angesehenen Wiesbadener ›Kurorchesters‹ hatte ihn vom Fleck weg wegen seines Geigenspiels als Solisten engagiert. Entdeckt hatte er meinen Onkel, als er bei einem Spaziergang am Hotel Brüsseler Hof vorbeikam und ihn spielen hörte. Meine Tante setzte der brotlosen Kunst allerdings sofort ein Ende. Unter anderem zerschlug sie seine Geige; die Reste dieser Geige sind heute noch in meinem Besitz. 

Als ich ihr mitteilte, dass ihr Mann gestorben war, hielt sie die merkwürdigste Trauerrede, die ich je gehört habe. Sie zählte auf, wann er was bei Opel verdient hatte, einschließlich aller Erhöhungen und der erwähnten Prämie. 

Sie, Tante Elfie, nahm an Onkel Georgs Beerdigung nicht teil, dafür aber seine lebenslange Freundin, von der ich erst in den letzten Monaten seines Lebens erfuhr. Diese erzählte mir, wie er ihr einmal mitten im Weihnachtstrubel ein Ständchen brachte – im Kaufhaus Karzentra am Mauritiusplatz, wo sie in der Schmuckabteilung aushalf.

Mein Onkel Georg als feuriger Liebhaber! 

Seitdem bin ich vorsichtiger mit Urteilen über meine Mitmenschen.

Onkel Willy, Georgs jüngerer Bruder, war eine Kanaille. Anders kann ich es nicht sagen. Er wohnte zusammen mit seiner Frau in Zimmer 7, ruhig zum Hof hin, selbstverständlich mietfrei, und versuchte über Jahre mit Hilfe von Winkeladvokaten, meiner Großmutter das Haus abzuluchsen. Gelang ihm nie, sorgte aber für viel Aufregung. Ihm wurde alles verziehen – sein Egoismus, seine Gemeinheiten, seine Trinkerei; vor allem seine sehr schwarzen Depressionen samt den damit verbundenen Heul- und Wutanfällen. 

Und warum die Nachsicht? Weil er im Krieg ›verschüttet‹ worden war. 

Mehr als einmal wurde meine Mutter ausgeschickt, Willy zu retten, wenn er mal wieder aus dem Haus rannte und versprach: »Jetzt hänge ich mich auf!«. 

Er, Onkel Willy, war es, der auf die Idee kam, dass ich, vaterlos wie ich nun mal war, in ein Internat gehörte. Und da kam ich auch hin, als ich reif war für die Sexta; ins ›Bischöfliche Konvikt‹ Montabaur, wo der Priesternachwuchs des Bistums Limburg herangezogen wurde. Meine Großmutter setzte große Hoffnungen auf das Internat; sie hätte es gern gesehen, dass ich Bischof von Limburg geworden wäre. Ein Freund von mir hat vor einigen Jahren das Limburger ›Bischöfliche Weingut‹ (neunhundert Jahre Geschichte und eins der ältesten Weingüter im Rheingau) gekauft. Zu Weihnachten und zu Geburtstag bekam ich dann Präsente aus diesem Weingut. Es kam mir immer vor, als stünden sie mir von Rechts wegen zu. 

Wahrscheinlich wäre die katholische Kirche mit mir als Bischof tatsächlich besser gefahren, als mit dem einen oder anderen ihrer Limburger Amtsbrüder.

So kam’s jedoch nicht. Ich war nur einige Jahre in Montabaur, auf die Dauer war es nichts für mich. Immerhin war damals nie von sexuellem Missbrauch die Rede. Es kann natürlich sein, dass das Tabuthema zu der Zeit noch mehr gemieden wurde als später, vielleicht war jedoch wirklich alles in Ordnung. Mir kamen der ›Regens‹ und der ›Subregens‹, die Leiter der Anstalt, ausgesprochen durchgeistigt vor. Einzig ein Jesuitenpater, der einmal im Jahr zu ›Exerzitien‹ erschien, machte mir Unbehagen. Er konnte mit viel Verve die Höllenqualen ausmalen, die unweigerlich auf die ›Selbstbefleckung‹ folgen würden. Seine Schilderungen waren so drastisch, dass man am liebsten davon Abstand genommen hätte.

Das Schönste am Internat war für mich die Fahrt dorthin und die Fahrt zurück – immer mit der Aartalbahn. Das war eine Eisenbahnlinie, die sich über den Taunuskamm (›Eiserne Hand‹) quälte und sich anschließend wie zur Belohnung durch das idyllische Aartal nach Limburg schlängelte; dort musste man umsteigen, wenn man nach Montabaur wollte. Wie liebte ich es, auf den offenen ›Perrons‹ am Ende der Wagen zu stehen und die Landschaft zu betrachten. 

Damit wären wir bei Tante Linny. Sie war die Freundin meiner Mutter, sogar die einzige Freundin, die meine Mutter hatte, und in Wiesbaden ›ausgebombt‹. Sie wohnte nun mit ihren Schwestern und deren Männern und Kindern in Diez an der Lahn. Ab und zu kam sie (selbstverständlich mit der Aartalbahn) nach Wiesbaden, um uns zu besuchen, vor allem eigentlich ihren promiskuitiven Freund Ewald. Der war Eisenbahner, Buchhalter in Wiesbaden-Ost, und sehr von sich eingenommen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er eine Ehefrau hatte und mindestens eine weitere feste Freundin. Wir kannten diese feste Freundin, und merkwürdigerweise war sie wirklich sympathisch. Ich wünschte ihr immer was Besseres als ausgerechnet den renommiersüchtigen Ewald. 

Fand sie aber nie! 

Für Frauen waren die Kriegs- und Nachkriegsjahre besonders schwer.

Der Bahnhof, in dem Tante Linny ein- oder ausstieg, hieß ›Bahnhof Landesdenkmal‹ und befand sich an der Biebricher Allee, eine Haltestelle von unserem Haus entfernt.

Was die ›Biebricher Allee‹ selbst betrifft, so gab es sie schon seit mindestens zweitausend Jahren. Anfangs waren hier römische Legionäre marschiert, wenn sie von ihrer Mainzer Garnison zu ihren Kastellen am Limes zogen oder wenn sie in die speziellen Soldatenthermen wollten, die in Wiesbaden (›Aquae Mattiacorum‹) existierten. Die eigentlichen Wiesbadener Thermen waren damals so berühmt und so luxuriös, dass Leute aus Syrien zum Baden kamen! 

In den Jahrhunderten nach den Römern verband die Straße das Fischerdorf Biebrich mit dem Landstädtchen Wiesbaden, später den Industrieort Biebrich mit der Weltkurstadt Wiesbaden. 

Von unserem Haus aus waren es nur ein paar Meter bis zur Biebricher Allee, und ich musste mir oft anhören, dass ich mir als Drei-, Vierjähriger ein Sofakissen schnappte, damit zur Allee ging und mich dort auf eine Bank setzte und die wenigen Autos zählte, die vorbeikamen. Zu der Zeit verkehrte hier noch die Straßenbahn. Sie wurde vom O-Bus abgelöst, der dann einige Jahre später nach einem schrecklichen Unglück eingestellt wurde. Seitdem bedienen normale Stadtbusse von ESWE die Strecke. Die Haltestelle Gottfried-Kinkel-Straße, unsere Haltestellte sozusagen, existiert immer noch.

Das Viertel selbst hat seinen Namen von Herzog Adolph von Nassau, einem sehr jagdliebenden Herrn, der ganz auf der autokratisch-absolutistischen Linie seines Vaters lag. 1844 heiratete er eine Nichte des russischen Zaren. Die junge Frau starb im Kindbett; ihr wurde als Grabdenkmal die sehr beeindruckende ›Griechische Kapelle‹ erbaut. Noch heute findet hier (jeweils lange andauernder) russisch-orthodoxer Gottesdienst statt. 

Ebenso tragisch: Das Herzogtum Nassau wurde 1866, nach dem Deutschen Krieg, von Preußen geschluckt. Nassau hatte auf der falschen Seite gestanden, hatte dem Wiener Kaiser zugehalten. Zur Erinnerung an die verblichene Pracht des Hauses Nassau wurde 1905 ein ›Landesdenkmal‹ errichtet. Entsprechend wurde der Bahnhof der Aartalbahn auf der gegenüberliegenden Straßenseite umgetauft, eben in ›Bahnhof Landesdenkmal‹. 

Hier, vor dem Bahnhofsgebäude, trank ich mit vierzehn mit einem Schulfreund mein erstes Bier. Wenige Schritte weiter hatte und hat Henkell seine weltberühmte Sektkellerei –im Inneren sieht sie aus wie ein Schloss. Immer, wenn wir wichtigen Besuch hatten, gingen wir dorthin und ließen uns die Gärkeller und das Rütteln und Degorgieren der Flaschen vorführen. Den schweren Geruch der Keller habe ich heute noch in der Nase. Anschließend an den Rundgang gab’s für die Erwachsenen ein Glas Sekt. Ob Henkell auch was für Kinder hatte, kann ich nicht mehr sagen. Ich vermute es; die Firma kam mir immer sehr großzügig vor.

Auf der anderen Straßenseite befand sich der idyllische Henkell-Park, auch ›Richard-Wagner-Anlage‹ genannt. Auf dem Gelände wollte Wagner ursprünglich sein Festspielhaus bauen. 

Daher der Name; er kommt aber nur in amtlichen Schriften vor.

Der Park und eine Autobahn grenzen die Adolfshöhe vom Stadtteil Biebrich ab. Der ursprüngliche Charakter des Viertels ist immer noch vorhanden. Allerdings fehlen heute die typischen Gartenlokale von ehedem mit ihren uralten Kastanien, auch die Rosengärtnereien, die es hier gab. Der Wasserturm ist nur noch ein Denkmal seiner selbst, wird aber (Denkmalschutz!) nicht abgerissen. Andererseits hat das Staatsarchiv heute hier seinen Sitz; auf dem Gelände einer Ziegelei, die schon stillgelegt war, als ich zur Diesterwegschule ging. Einen Hundefriedhof gab’s hier auch, mit kleinen Grabsteinen aus Holz, Granit oder Marmor. Am Rand des Viertels befand sich ein großes Lazarett. Ich ließ keinen ›Tag der Wehrmacht‹ dort aus: Es gab Erbsensuppe aus der Gulaschkanone und Eselreiten; echte, kleine geduldige Esel! 

Nach dem Krieg wurde aus dem Lazarett das ›US Air Force Hospital‹ beziehungsweise das ›Wiesbaden Medical Center‹, lange die größte Klinik der Amerikaner in Europa. Für mich war das Hospital nur insofern von Belang, als ich mich als junger Mann mit einer ebenfalls jungen Australierin anfreundete, die hier als Schwester arbeitete. Leider war sie ausgesprochen flatterhaft, was mir sehr zu schaffen machte. Mehr ist dazu nicht zu sagen. 

Wer sollte noch erwähnt werden? Auf alle Fälle verschiedene Nachbarn! 

Gegenüber von uns wohnten zum Beispiel die Kilbs. Sie, Frau Kilb, war früher eine bekannte Opernsängerin, ihr Vater der Generalintendant Tietjen. Wikipedia schreibt über ihn: »Von 1925 bis 1931 war Tietjen Intendant der Städtischen Oper Berlin und übernahm ab 1926 zudem die Leitung der staatlichen Opernhäuser.« 1927 wurde er Generalintendant aller Preußischen Staatstheater, einschließlich des Wiesbadener Theaters, und behielt diesen Posten bis 1945 bei. 

Tietjen war ein ausgesprochenes Doppeltalent – »als wirtschaftlich wie künstlerisch gleich effektiver Theatermanager und als ebenso gerissener wie verschwiegener Kulturpolitiker«. Nach dem Krieg leitete er wieder große Häuser in Berlin und Hamburg; in Bayreuth mischte er, persönlicher Freund von Winifred Wagner, sowieso über Jahrzehnte mit. Ab 1943 bereitete er die rauschhafte Siegesfeier vor, die es nach dem deutschen Endsieg geben sollte. 

Kam nicht dazu.

Als ich die Kilbs kannte – und ich kannte sie recht gut, weil ich den Mädchen Nachhilfeunterricht gab – war vom Vater und Großvater, dem berühmten Intendanten, nie die Rede. Frau Kilb war die schlechteste Hausfrau, die ich je erlebt habe. Die ganze wunderbare Villa, die sie allein bewohnten, sah immer aus wie eine Obdachlosenbude. Herr Kilb brachte die Zeit irgendwie rum, löste gern Kreuzworträtsel; er war Arzt, hatte aber seine Zulassung verloren. Meine Mutter sagte dazu nur: »Er war in Hadamar!« Erst später wurde mir klar, was das hieß: Er hatte sich bei der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹ mitschuldig gemacht. Fast 15 000 Menschen wurden von 1941 bis 1945 in der Landesheilanstalt Hadamar ermordet. Hierzu gehörten psychisch Erkrankte und Menschen mit Behinderungen, es wurden Alte und Junge, Männer, Frauen und Kinder umgebracht. 

Im Laufe der Jahre und im Klima des bewussten Vergessens nach 1945 half Herr Kilb anfangs bei Kollegen aus; später hatte er wieder eine eigene Praxis.

Und über die exzentrischen Hotel- und Pensionsgäste, die ich im Laufe der Zeit entweder bei meiner Mutter oder bei meiner Großmutter kennenlernte, müsste ich eigentlich auch schreiben. Etwa über die beiden Berufsspieler, die in Cannes Hausverbot bekamen und dann in Monte Carlo ein Vermögen machten; über die alte Verkäuferin von Bratpfannen, die Tag für Tag darauf wartete, von ihrer Familie zu Weihnachten eingeladen zu werden und am Ende bei uns am Tisch saß. Auch über die scheue ›Schönheitstänzerin‹ der Parisiana-Bar auf der Taunusstraße, die mit ihrem Mann über Monate im Zimmer 12 wohnte. Ihr Mann war auch ihr Zuhälter, und er hielt es für seine Aufgabe, mich, den angehenden Schriftsteller, mit den Realitäten seines Metiers vertraut zu machen. Ich kann nur sagen, leicht hat man’s da nicht. 

Einmal ging die Tür im Brüsseler Hof auf, ein älterer Mann kam herein. Meine Großmutter saß an ihrem Tisch in Zimmer 1, der als Reception diente, und blickte zur Tür. Dann stand sie langsam auf und ging auf den Mann zu, halb ungläubig, halb freudig erregt. Sie und der Fremde sahen sich an, umarmten sich ungeschickt und fingen an zu weinen. Meine Großmutter machte eine halbe Flasche Sekt auf, aber das machte sie um diese Uhrzeit sowieso. Die Beiden tranken ein Glas und verabschiedeten sich. 

Als der Mann gegangen war, fragte ich: »Wer war das denn?« und meine Großmutter erwiderte: »Das war der Herr Grünzweig! Den haben wir doch versteckt … Seine ganze Familie haben sie umgebracht. Aber er hat Glück gehabt …«

Ich habe die naheliegende Frage nicht gestellt: Wie lange hattet ihr ihn versteckt, einen Tag, eine Woche, einen Monat? Meine Großmutter ist niemals mehr auf den Vorfall zurückgekommen und ich auch nicht.

Aber selbst, wenn ich gefragt hätte, wären mit Sicherheit nur abwehrende Antworten gekommen wie: »Ach, das ist doch so lange her … Das war doch alles schrecklich … Hauptsache, er hat Glück gehabt und ist durchgekommen.«

Mehr als eine dieser teils tragischen, teils komischen Figuren, die mir damals begegneten, haben mir schon als Helden von Geschichten fürs Fernsehen gedient. Es würde schwer werden, hier Wahrheit und Erdichtetes wieder auseinander zu dröseln. Höchstwahrscheinlich würde es nicht gelingen, also lasse ich es.

Und warum der dramatische Titel für diesen Text – ›Der Junge, der Angst hatte, erschossen zu werden‹?

Als ich drei, vier Jahre alt war, musste ich, wenn die Sirenen heulten, von Zimmertür zu Zimmertür gehen, dagegen hämmern und rufen: »Fliegeralarm! Bombenalarm!« 

Viele der übermüdeten Menschen hörten die Sirenen einfach nicht; sie schliefen weiter und waren in Gefahr, im Bett umzukommen.

Wenn ich mit meiner Mutter und den Übrigen aus dem Haus im Luftschutzkeller saß und alle immer stiller und stiller wurden und man die Einschläge hörte und sah, wie der Kalk von der Kellerdecke kam, war ich stets überzeugt: Meine letzte Stunde ist gekommen. 

Es gab wirklich dramatische Vorfälle, nicht nur mit Onkel Georg und Onkel Willy. Ich habe besoffene GIs erlebt, die sinnlos herumballerten und ihre Mitmenschen in Lebensgefahr brachten, und wirkliche Angst hatte ich vor der ›MP‹, den amerikanischen Militärpolizisten. Mit denen wollte sich aber auch sonst niemand anlegen. 

Einmal mussten wir, mein Vetter Schorschemännchen und ich, einen ›Engländer‹ beim Spengler Elias erbetteln, der dringendst im Hotel Brüsseler Hof gebraucht wurde. Es war schon Sperrstunde, da ging man nur noch aus dem Haus, wenn man absolut nichts zu verlieren hatte. Dem Spengler Elias mussten wir hoch und heilig versprechen, dass wir ihm das Werkzeug morgen früh wieder bringen würden – er brauchte es selbst dringendst. Also, er gab uns das Werkzeug und unglückseliger­weise sah es in der Dunkelheit aus wie eine Maschinenpistole. Mein Vetter fuchtele entsprechend damit herum, legte auf imaginäre Ziele an, und plötzlich gingen Scheinwerfer an, ein Auto raste auf uns zu, zwei Typen von der MP sprangen aus ihrem Jeep und nahmen uns fest. 

Das war einer dieser Momente, wo ich dachte: Jetzt ist es soweit, jetzt bist du dran. Auch diesmal schloss ich mit meinem Leben ab.

Die Militärpolizisten nahmen uns den Engländer ab und ließen uns laufen. 

Ich bin erst wieder in diese Ecke der Taunusstraße gegangen, als Herr Elias gestorben war. Meine Großmutter sagte, als die Nachricht von seinem Tod kam: »Wieso denn? Er soll uns doch in Zimmer 8 ein neues Waschbecken setzen!«

Man sieht, so kann man auch mit dem Tod umgehen.