Was man mitbringen muss

Artikel
Ein Interview mit Hans Dieter Schreeb

??? Herr Schreeb, Sie haben nebst vielen Büchern, nebst vielen Hörspielen und Fernsehserien auch Tatort-Drehbücher geschrieben, eine Arbeit, die häufig erwähnt wird, wenn über Sie gesprochen wird. Aber eine Arbeit, wie Sie mir im Vorgespräch erzählt haben, auf die Sie gar nicht so gerne zurückblicken. Warum ist das so?   HDS: Ach, ich will nicht sagen, dass ich nicht gerne darauf zurückblicke. Es ist einfach eine Arbeit unter anderen. Das wollte ich ausdrücken – ein Fernsehspiel ist ein Fernsehspiel. Ob da ein Kommissar mitspielt, ob da gar Kommissar Palu mitspielt, ist letzten Endes für den Autor unwichtig. Entscheidend ist, dass ihm interessante Figuren, interessante Handlungen gelingen. Ob jemand rechts oder links hernieder sinkt, ist letzten Endes für den Autor unerheblich.   ??? Was sind Ihre Zutaten für einen guten Tatort, ein gutes Tatort-Drehbuch?   HDS: Na, ich hoffe das, was ich überall einbringen kann – eine besondere Sicht auf die Figuren, auf die Menschen, auf das, was sich da abspielt...   ??? Nun haben Sie auch historische Romane geschrieben, bei denen sicher eine umfangreiche Recherche von Nöten war. Beim ›Bader von Mainz‹ dreht’s sich ums Mittelalter, das Leben im Mittelalter und in der Stadt Mainz. Wie sammeln Sie dafür Informationen?   HDS: Das Buch spielt nicht im Mittelalter. Das Mittelalter umfasst tausend Jahre. Mein Buch spielt im Jahre 1358. Das ist ganz wesentlich für das Buch. Alles, was die Leute, die damals lebten, wissen konnten, finden Sie in diesem Roman. Was sie nicht wissen konnten oder was lange zurücklag, in mythischer Vorzeit sozusagen, kommt nicht vor. Es ist eine sehr eingeschränkte Sicht, ein klarer Ausschnitt einer Zeit, zu der ich mich entschlossen habe. Meine Grundüberlegung ist immer die: Auch die Menschen, die vor uns gelebt haben, haben ihr Leben gemeistert. Wenn Sie die Menschen also ernst nehmen und nicht nur als Spielfiguren betrachten, wenn Sie sagen, sie gehen durch dieses Jahr, diese Stadt und diese Landschaft, dann, meine ich, können Sie eine Geschichte erzählen, die wahr ist und als wahr empfunden wird.   ??? Und wie haben Sie herausgefunden, was die Menschen in den 1350’iger Jahren gewusst haben?   HDS: Ach, das ist eine reine Fleißarbeit. Heute gibt es zu jedem Thema sehr viel Sekundärliteratur – Sie können herausfinden, was die Leute angezogen haben. Damals wurde gerade die Hose erfunden, das war für die Schneider eine sehr komplizierte Sache. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viel Mühe es macht, eine Hose zu schneidern, wenn es vorher keine Hose gab... Sie können wissen, was die Leute gegessen haben, wie es mit der Kirche war – damals tobte in Mainz gerade der so genannte Bischofsstreit; ein sehr bitterer Streit für die Leute, weil die Glocken nicht geläutet haben und die Toten nicht christlich beerdigt werden konnten. Kurz und gut, wenn Sie sich die Mühe machen, alles zu lesen, was es zu diesem einen Punkt gibt, auf den Sie sich festgelegt haben, können Sie sich erst mal selbst ein Bild machen und anschließend ein Bild entwerfen und vermitteln.   ??? Wie ordnen Sie die Fülle von Fakten, die Sie für ein solches Buch brauchen. Sammeln Sie die auf Karteikarten?   HDS: Nein, die Zeiten der Karteikarten sind ja Gott sei Dank vorbei. Auch ich bin schon beim Computer angelangt. Wenn ich auch ein bisschen rückwärtsgewandt denke, habe ich doch die modernen Apparate zur Verfügung. Für Autoren gibt es ja gar nichts Besseres als Computer. Seitdem es Computer gibt, hat man festgestellt, sind die Bücher um ein Drittel dicker geworden. Das liegt einfach daran, dass Sie nicht mehr radieren müssen, abschreiben und einkleben – alles, was früher ja notwendig war. Heute ein Knopfdruck und Sie sind wieder bei einem Detail, das Ihnen im Moment nicht präsent ist. Man ist ja erstaunt, was man alles vergessen hat, wenn man am Ende angelangt ist. Bedenken Sie, ich arbeite zwei Jahre an einem Roman... Wenn jemand eines Tages ein Quiz veranstalten würde und ich müsste dabei über meine Bücher, Hörspiele, Fernsehspiele Bescheid wissen, über meine Figuren und ihre Schicksale, ich käme über die erste Runde nicht hinaus... Es ist eine solche Fülle, da vergisst man einfach. Ich zumindest.   ??? Herr Schreeb, wie sieht ein ganz normaler Tagesablauf bei Ihnen aus?   HDS: Er beginnt sehr früh. Das hat vor allem mit meiner Frau zu tun. Ich stehe meistens schon um sechs, halb sieben auf. Spätestens um acht sitze ich am Computer, dann bleibe ich da bis um halb eins. Dann gehe ich in die Küche, bruzzele irgend etwas, anschließend geht’s wieder an die Maschine. Um sechs höre ich auf.   ??? Ist das wirklich so, dass Sie sich vornehmen, das ist jetzt meine Arbeitszeit von sechs bis sechs?   HDS: Das nehme ich mir nicht vor, das hat sich einfach so eingespielt. Wenn Sie ein gewisses Pensum erledigen müssen – und ich habe eigentlich immer einen gewissen Endtermin für die Arbeit, die ich gerade erledige –, dann geht es einfach nicht anders. Mal drei Tage nichts zu tun und dann nachts durchzuarbeiten, bringt mir nichts. Es gibt sicher Autoren, die das so halten; die haben auch gute Gründe dafür. Da ich aber hauptberuflich schreibe – so wie Bäcker Brot backen –, muss ich mich eben an diese einfachen Regeln halten.   ??? Normalerweise sagt man ja: Aller Anfang ist schwer. Wenn man erst mal am Tippen ist, geht das ja, aber wie entsteht eigentlich eine Geschichte?   HDS: Sie haben völlig recht, aller Anfang ist schwer. Ein Ratschlag eines Kollegen, den ich mal irgendwo gelesen habe, ist wirklich bemerkenswert. Der sagte: Hören Sie nie abends mit dem Ende auf! Lassen Sie immer noch irgendwas liegen, das Sie am nächsten Morgen fortsetzen können. Das ist tatsächlich ein Tipp, den ich auch nur allen, die schreiben wollen – und in der Art schreiben wollen, wie ich es tue – weitergeben kann.   ??? Wovon lassen Sie sich inspirieren?   HDS: Nun, Gott, ich lese, ich gucke Fernsehen, ich lasse mir Geschichten erzählen, wie alle anderen Leute auch. Da habe ich keinen Geheimtipp weiterzugeben. Ich lebe von dem, was andere machen.   ??? Gehen Sie nicht raus und holen den Alltag in Ihre Geschichten rein? Transportieren Sie nicht die Erfahrungen Ihres Alltags?   HDS: Nein, eigentlich bin ich innerlich immer in anderen Jahrhunderten. Ich beschäftige mich zur Zeit mit den letzten fünfhundert Jahren am Rhein. Da habe ich mit den Holländer-Flößen zu tun – stellen Sie sich vor, sechs-, siebenhundert Mann Besatzung auf elftausend Quadratmeter Baumstämmen! – , mit den Leinenreitern, mit dem Zustand der Treidelpfade und damit, dass die rheinischen Kurfürsten im Jahre 1746 eine Konferenz über die Verbesserung der Treidelpfade abgehalten haben. Doch wenn ich die Konferenz selbst beschreiben sollte und wollte, dann weiß ich, da ging’s nicht anders zu, als bei einer Konferenz hier im Hessischen Rundfunk oder bei der Bundesregierung... In meinem Roman ›Hinter den Mauern von Peking‹ habe ich das Leben in der Pekinger Botschaft von 1900 erzählt. Danach hat mich a) der Botschafter erfreut, weil er so und so viele Bücher für die Botschaft gekauft hat – er sagte: Die Kollegen von heute müssen ja wissen, was damals los war – und b) hat mich ein Diplomat angerufen, der von mir wissen wollte, wo ich ›auf Posten‹ gewesen sei. Er dachte einfach, wer ein solches Buch schreibt, muss im Diplomatischen Dienst gewesen sein. Ich habe ihm gesagt: Wissen Sie, ich kenne das Leben im ZDF ziemlich gut, dann weiß ich, wie es in der Diplomatie zugeht.   ??? Wollen Sie sagen, dass Sie nicht irgendwelche Gefühle oder Erlebnisse, die Sie einmal hatten, in Ihre Geschichten ’reinbringen?   HDS: Das ist natürlich in jeder Zeile drin. Das können Sie gar nicht verhindern. Das ist ja der tiefste Antrieb jedes Autors, wiederzugeben was er gesehen, was er erlebt hat, was ihm widerfahren ist. Das kann er nicht von seiner Erfindung trennen. Figuren und Situationen, die Ihnen einfallen, fallen Ihnen ja nur ein, weil Sie dieses oder jenes erlebt haben. Figuren, die Sie nicht kennen, können Sie nicht beschreiben.   ??? Von Haus aus waren Sie Journalist, haben bei einer Zeitung volontiert. Wie hat sich das Ganze dann entwickelt zum klassischen Schriftsteller?   HDS: Durch Zufall. Durch reinen Zufall. Manchmal denke ich, wenn ich auf mein Leben zurückblicke – und da ich jetzt bald sechsundsechzig werde, habe ich ja Anlass dazu –, frage ich mich: Wäre es nicht besser gewesen, ich wäre mein Leben lang Journalist geblieben? In mancher Hinsicht wäre es leichter gewesen. Aber ich fürchte, nach kurzer Zeit wäre es mir schwergefallen, nur das wiedergeben zu können, was sich exakt an dieser Ecke ereignet hat oder was bei jener Konferenz besprochen wurde. Ich fürchte, das wäre auf die Dauer für mich sehr unbefriedigend geworden. Nicht umsonst gibt es viele saufende Journalisten. Alles in allem hat es sich ganz gut gefügt, wie es sich gefügt hat. Aber ein Plan war nie dahinter. Eins ist allerdings auch wahr, ich war zehn Jahre alt, da wusste: Ich werde schreiben. Was wusste ich natürlich nicht. Das Schreiben ist mir wirklich nicht in die Wiege gelegt worden. Von Rechtswegen hätte ich Matratzen vermieten müssen, wie das meine Großmutter nannte; alle in unserer Familie haben von der Hotellerie gelebt... Na, nicht ganz. Man hat mir auch andere Vorschläge gemacht. Ich sollte Bischof werden; mein Vater wollte, dass ich Eisenbahnrat werde. Kurz und gut, es gab verschiedene Vorschläge, aber ich, ich wollte schreiben.   ??? Und welches Talent muss ein Schriftsteller in Ihnen Augen haben? Was muss er unbedingt mitbringen?   HDS: Er muss Worte aneinanderreihen können, und so, dass Andere sie hören und lesen wollen.        Die Fragen stellten Susan Kades und Daniel Scondo, Hessischer Rundfunk, Frankfurt am Main, 2. Juli 2004