Cicerone zwischen zwei Buchdeckeln

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Die handgeschriebenen Pilgerleitfäden, die ersten Itinerare oder Baedekers gründliche Handbücher für den "gebildeten Reisenden": Sie alle vermitteln viel vom Geist ihrer jeweiligen Zeit und Gesellschaft.

In einem Reiseführer aus dem Jahr 1688 wird empfohlen: Sollte es nicht möglich sein, das eigene Bett auf die Reise mitzunehmen, dann möge der Reisende wenigstens ein Faltbett bei sich haben. In jedem Fall sollte er eigenes Bettzeug mit sich führen. Bettdecken und Betttücher der Gasthäuser seien im allgemeinen schmutzig und/oder von Läusen und Wanzen bewohnt. Und ein weiterer Tip aus demselben Buch: Der Reisende sollte immer ein Schloß oder wenigstens eine Eisenstange im Gepäck haben, damit er nachts die Schlafzimmertür von innen versperren könne. So erspare man sich unangenehme Überraschungen. Angenehme natürlich auch. Ein anderer Reiseführer aus der Zeit, der Keyssler, ein Vorläufer des Baedekers, schlägt in dieselbe Kerbe. Er beschwert sich, daß viele Gastwirte die unangenehme Neigung hätten, dem Gast partout ein ›garniertes‹ Bett aufzudrängen - also Bett plus Bettgefährtin. Aus praktischen Gründen war die Zugabe im allgemeinen eines der Haus- und Zimmermädchen.

Da der Reisende leicht in Gegenden mit »äußerst eigenartigen« Sitten und Gebräuchen kam, mit sehr unterschiedlichem Essen und in jedem Fall mit gänzlich anderem Geld, war es ratsam, sich einem kundigen Führer anzuvertrauen. Goethe notiert im Tagebuch seiner ›Italiänischen Reise‹ unter dem 4. Oktober 1786: »Ich habe jetzt einen Lohnbedienten. Einen trefflichen Alten. Einen Teutschen, der mir täglich was er mich kostet erspart. Er ist mit Herrschaften durch ganz Italien gegangen und weis alles recht gut. Er dressirt die Italiäner, auf die rechte Weise. So gibt er Z.E. genau das wenigste Trinckgeld an jedem Orte, ich muß überall für einen Kaufmann passieren.«

Goethe hatte offenbar Glück gehabt. Im allgemeinen verdoppelte nämlich ein Reisebegleiter die Kosten und vermehrte die sowieso schon unvermeidlichen Strapazen einer Reise. Insofern lag es nahe, gedruckte Reiseführer zu erfinden. Tatsächlich ernährte das Reisebuch-Gewerbe bereits im 18. Jahrhundert zahlreiche Drucker, Verleger und Kartenstecher. Allein in London erschienen pro Jahr mindestens zwei neue, jeweils angeblich brandaktuelle Reiseführer. Sie beschrieben immer fernere Ziele. Oder die alten ein bisschen anders. Begünstigt wurden die Reisebuchschreiber und -händler von einer Mode, die es in dieser Form nie zuvor gegeben hatte: der Grand Tour. Vor allem für den jungen Mann von Stand war es ein Muss, die gerühmten Schönheiten des Kontinents in einer ausgiebigen Rundreise kennen zu lernen (einschließlich der erwähnten Zimmermädchen). Der mit großem Gefolge reisende Engländer staunte über alles, was ihm geboten wurde - von der obskuren Kleinstaaterei Deutschlands bis zu den Vesuv-Ausbrüchen - und war seinerseits ein Objekt der Neugier und des Amüsements.

Was im 17. und 18. Jahrhundert als Vergnügen der Reichen und Edlen relativ zögerlich begonnen hatte, das Reisen nämlich, wurde dann im 19. Jahrhundert zur Massenbewegung. Vor allem nach Einführung der Eisenbahn (und nach der Erfindung des Automobils). Entsprechend wurde das 19. Jahrhundert auch zum klassischen Reiseführer-Zeitalter. Meyers Enzyklopädie zog um 1900 so Bilanz: »Die verbreitetesten Reisehandbücher sind gegenwärtig in Deutschland die von Baedeker und von Meyer, in England Murray und Black, in Frankreich von Joanne.«

John Murray jun., Spross einer bekannten Londoner Verlegerfamilie, war der erste, der sich mit seinen ›Red Books‹ vor allem auf praktische Ratschläge für die touristische Mittelklasse kaprizierte. Sein Ziel: mehr Reise fürs Geld. Karl Baedeker, 1801 in Essen geboren und bereits mit 26 Jahren Verleger und Buchhändler zu Koblenz, vervollkommnete das Prinzip der ›Handbooks for Travellers‹. Auch Baedeker wandte sich vor allem an den Reisenden, der mit seinen Groschen haushalten mußte. »Zum Reisen«, bemerkte er in einem seiner Führer, »gehört in erster, zweiter und dritter Linie Geld.« Und im Vorwort der ›Rheinreise von Mainz bis Cöln‹ (1832) - das war einer der großen Schlager seines Verlags; er erschien in fünfunddreißig verschiedenen Ausgaben ­ heißt es; » Wer Teppiche, Goldspiegel und Pendulen, Mahagonystühle, Marmortische und Plüsch-Sophas nicht entbehren kann, möge sich in die großen Gasthöfe begeben und über hohe Preise sich dann nicht beschweren.«

Anfangs standen Murray und Baedeker in engen Geschäftsbeziehungen, lieferten gegenseitig ihre Produkte aus und redeten sich mit ›geehrter Herr und Freund‹ an. Baedeker übernahm auch den roten Einband der Murray'schen Traveller Books; ursprünglich waren die Baedeker-Bände gelb eingebunden gewesen und mit Biedermeier-Motiven geschmückt. Andererseits erfand Baedeker die Sternchen, die im Laufe der Zeit Millionen von Menschen mit einem Blick klarmachten, was wichtig und was unwichtig ist, was sie auf jeden Fall besichtigen mussten und was sie ohne größeren Verlust auslassen durften. Später kühlten die Beziehungen zwischen den Verlegern ab. Speziell als Baedeker englischsprachige Ausgaben seiner Führer in England vertreiben ließ.

Karl Baedeker verfasste seine Handbücher noch eigenhändig - von der ersten bis zur letzten Zeile. Und er nahm nichts in seine Reiseführer auf, das er nicht selbst ausprobiert hatte. Das ging soweit, dass er in einem Führer von 1851 über eine Dampferfahrt von Pola nach Fiume festhielt: »Der Schreiber dieser Zeilen hat die Fahrt bei Nacht gemacht und bedauert, von ihr nichts melden zu können.«

In einer Gedenkschrift des Verlags wird Karl Baedeker als ein untersetzter, jovialer Mann mit scharfer Beobachtungsgabe charakterisiert, »der es zugleich verstand, den reichhaltigen Stoff seiner Beschreibungen in sorgsam ausgewogener Form klar und übersichtlich gegliedert wiederzugeben. Er wanderte gern, war gesellig, achtete auf Ordnung, Sparsamkeit und Ehrlichkeit, und so wollte er auch nichts beschreiben oder bewerten, was er nicht selbst gesehen hatte. Dies erklärt die legendär gewordene Gründlichkeit und Genauig­keit der Angaben in seinen Büchern.« Des Verlegers letztes Werk war der Band ›Paris und Umgebung‹, den er 1855 herausbrachte. Vier Jahre später starb er im Alter von 58 Jahren, und die Vossische Zeitung formulierte in einem Nachruf, seine Handbücher seien »zum unzertrennlichen Begleiter von Tausenden von Reisenden geworden«. Einer der Trauergäste gab ihm mit einem Buch in der Hand das letzte Geleit, und wie zum Trost für die trauernden Hinterbliebenen hatte dessen Einband das mittlerweile typische Baedeker-Rot und die charakteristische Goldschrift auf Einband und Rücken.

Es konnte nicht ausbleiben, dass auch andere Verlage ›Baedeker‹ herausbrachten. Zum großen Rivalen entwickelte sich vor allem das ›Bibliographische Institut‹, erst in Hildburghausen ansässig, später in Leipzig. Joseph und Herrmann Julius Meyer, die Chefs des Instituts, hatten sich mit nachschlagbarem Wissen Reputation und Finanzkraft verschafft, mit Atlanten zum Beispiel und mit ›Meyer’s Konversationslexikon‹. Die ›Bibliothek der deutschen Klassiker‹, ›Brehm’s Thierleben‹ und der ›Duden‹ waren weitere Säulen des Programms und gehörten zum Wissens- und Bildungsschatz ganzer Generationen.

1862 wurde auf dem Sektor Reise der Wettbewerb mit dem Marktführer aufgenommen, und zwar mit einem ›Neuesten Reisehandbuch für die Schweiz‹. Der 700­Seiten-Band - ausgestattet mit vierzehn Karten in Stahlstich und Buntdruck, fünf Stadtplänen, sieben Gebirgspanoramen und sechzehn Holzstich-Illustrationen - kostete nur zwei Taler; ging also mit einem ausgesprochenen Kampfpreis ins Rennen.

Im ›Börsenblatt des Deutschen Buchhandels‹ des Jahres 1900 wurden die Redaktionsprogramme beider Verlage gegenübergestellt. Da sieht man auf einen Blick, wohin es die Deutschen zog: an den Rhein, an die Nord- und Ostsee, nach Paris und an die Riviera, nach Italien. Ober-Italien ist zum Beispiel bei Baedeker in der 15. Auflage, bei Meyer hat es immerhin auch schon die sechste Auflage erreicht. Aber auch Spanien, das Mittelmeer und Ägypten sind Ziele der Sehnsucht. Während Baedeker mit großen Bänden wie ›Nordamerika‹ und ›Russland‹ glänzt, hat sich das Bibliographische Institut auf die deutschsprachigen Ausflugs- und Wandergebiete spezialisiert. Dem dreibändigen Meyer ›Hochtourist in den Alpen‹ hat Baedeker nichts Spezielles entgegenzusetzen und auch nichts der von Meyer gut verkauften ›Sächsischen Schweiz‹.

Der Reiseführer in Buchform ist beinahe so alt wie die Reise. Schon aus den römischen Zeiten sind sehr praktische Reisehandbücher samt Straßenkarten, Meilenangaben und Beschreibungen des jeweiligen Straßenzustands erhalten geblieben. Selbst exakte Schiffsrouten konnte man in sogenannten Itineraria nachschlagen. Allerdings mäkelte der große Brockhaus um die Jahrhundertwende: »Die Itineraria sind trockne Verzeichnisse von Stationen und Straßen ­ ähnlich unserem Kursbuch.« Wesentlich farbiger waren die sogenannten Peregesen: Bücher, die die Merk- und Sehenswürdigkeiten antiker Orte beschrieben.

Einer der ersten großen Bucherfolge - noch vor der Erfindung der Druckerpresse - war ein Reiseführer zum damals weltberühmten Wallfahrtsort Santiago de Compostela, handgeschrieben und sündhaft teuer. Dieses ›Liber sancti Jacobi‹, offiziell unter dem Titel Codex Calixtinus verbreitet, war im frühen 12. Jahrhundert von dem französischen Mönch Aimeric Picaud verfasst worden. Und als erster mit Typen gedruckter Reiseführer gilt ›Die Walfart und Strasz zu Sant Jacob‹, geschrieben von dem Mönch Hermann Künig von Vach und ebenfalls für Compostela­Pilger gedacht. 1563 nennt sich ein Reisehandbuch zum ersten Mal ausdrücklich auch so: ›Ein neues nützliches Raißbüchlein der fürnemesten Land vnnd Stett‹, erschienen in Augsburg. Wenn man von den Beschwernissen liest, die in den Reisebüchern dieser und der folgenden Jahrhunderte explizit oder zwischen den Zeilen erwähnt werden, wundert man sich, dass überhaupt jemand unterwegs war. Ganze Banden Straßenräuber lauerten auf den arglosen Reisenden; die Straßen selbst waren schlecht bis miserabel.

Einst wurden Reisen unternommen, weil man am Ziel einen klaren Zweck verfolgte: Handel treiben etwa, ein Geschäft abschließen oder die Heiden missionieren oder sich in Rom den päpstlichen Segen holen. Im 17. und 18. Jahrhundert wandelte die Reise dann ihren Charakter. Trotz aller Strapazen, die man dabei auf sich nehmen musste (und trotz der horrenden Kosten), wurden Reisen nun um ihrer selbst willen populär. Jetzt reiste man, um sich zu bilden und zu vergnügen. Eine italienische Reise gehörte zum Programm des Menschen von Welt - lange bevor Goethe sie seinerseits unternahm. Ja, Goethes Reise entspricht einem Muster, das bereits hundert Jahre vorher klassisch war. 1691 wurde zum Beispiel in Paris eine ›Nouveau Voyage d'ltalie‹ herausgebracht, vier Jahre später deren englische Übersetzung. Was hier gedruckt wurde, steht sinngemäß auch noch in der Einleitung des ersten Baedeker-Italienbandes von 1862: »Italien hat von Anbeginn der Geschichte bis auf die Gegenwart stets die mächtigste Anziehung auf den Nordländer ausgeübt. Eine Reise in dieses ›gelobte Land‹ ist Manchem der höchste Wunsch seines Lebens gewesen.«

Leider jedoch, fährt der Baedeker fort: »Das Reisen in Italien ist von demjenigen in Deutschland, Frankreich, der Schweiz u.s.w. erheblich verschieden, vor allem deshalb, weil die moderne Art des Verkehrs mit festen Preisen sich erst langsam und allmählich Bahn bricht. Der Reisende wird von Wirthen, Kellnern, Kutschern, Facchini, überhaupt all den vielen Leuten, mit denen er tagtäglich nothgedrungen in Berührung kommt, als Object betrachtet, aus dem möglichst viel Geld herauszuschlagen ist. Der Fremde muss immer und überall auf der Hut sein gegen Ueberlistungen und Uebertheuerungen, denn der Italiener niedern Schlags betrachtet einen derartigen Betrug nicht als ein Unrecht, sondern als einen Beweis größerer Klugheit. Vor allem in Neapel hat die Unverschämtheit der Ansprüche einen erstaunlichen Grad erreicht und man ist leicht zu dem Glauben geneigt, dass man es lediglich mit Canaille zu tun habe.« Das hätte auch der Senior schreiben können.

Die Baedeker wurden nach dem Tod des Firmengründers übrigens von seinen Söhnen und Enkeln verfasst beziehungsweise von von ihnen beauftragten Fachleuten. Aber man sieht, der Geist des Hauses hatte sich nicht verändert. Schliemann und seine Ausgrabung von Troja, der Bau des Suez-Kanals samt der Uraufführung der Verdi-Oper ›Aida‹, der Mahdi-Aufstand und der deutsche Plan der sogenannten Bagdad-Bahn lenkten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Phantasie des Publikums auf den Orient, ließen ihn wie bengalisch beleuchtet erscheinen.

Die Reisebuch-Verlage schickten ganze Trupps von schreibenden Professoren ins Osmanische Reich, nach Syrien und Palästina, nach Unter- und Ober­Ägypten, und diese verfassten dann entsprechende Werke wie ›Ägypten in Wort und Bild‹ oder ›Cicerone durch das neue und alte Ägypten‹.

Um die Jahrhundertwende war Ägypten bereits auf das Normalmaß reduziert: »In Ägypten läßt sich ein bestimmter Reiseplan ebenso sicher durchführen wie bei uns. Zu einer flüchtigen Bereisung des Landes genügen 4-5 Wochen, von denen 2-3 Tage auf Alexandria und die Fahrt nach Kairo, 10-12 Tage auf Kairo nebst Umgebung, 3 Tage auf das Fajum, 3-4 Tage auf den Suez-Kanal und die dort zu machenden Ausflüge, 14 Tage auf Oberägypten (Eisenbahn bis Assuan) und einige als Ruhetage zu rechnen sind.«

Was zieht man dazu an?
Zu empfehlen sind: ein dunkler und mehrere helle europäische Herbstanzüge aus solidem Wollenstoff, für deren Nähte und Knöpfe man seinem Schneider dauerhafte Arbeit empfehle. Reparaturen unterwegs sind zeitraubend und teuer. Des weiteren ein Winterüberzieher für die Hin- und Rückreise, sowie für kühle Abende in Ägypten: leichte Flanellhemden, wollenes Unterzeug und dgl., wie man es gewohnt ist: gute feste Schuhe und ein Paar Hausschuhe; ein bequemer Filzhut mit nicht zu schmalem Rande oder ein eleganter Hut, den man dann außerhalb Kairos bei Ausflügen durch den sog. indischen (helmartigen) Hut ersetzt. Gegen den Sonnenbrand bedient man sich leichter seidener Tücher, die man um den Hut wickelt und über den Nacken herunterfallen läßt. Nach englischem Gebrauch, der in Ägypten maßgebend ist, legen Herren zum Dinner (Hauptmahlzeit) Frack und weiße Binde an. Außerhalb Kairos thut's auch ein dunkler Gehrock oder Smoking.«

Und was gibt's zu sehen?
Eine Menge, und nicht nur die Pyramiden und die Tempel von Theben und das Ägyptische Museum. Da waren auch die Märchenerzähler (»im geschlossenen Kreise des Hauses meist Erzählerinnen«), Musikanten, Tänzerinnen und Schlangenbändiger auf den bunten Marktplätzen. Dem orientalischen Straßenleben als Erlebnis werden insgesamt zwei Sterne zuerkannt. Von den alten Vierteln Kairos wird gesagt, dass sie sich ›in voller Eigentümlichkeit‹ erhalten haben. »Die Gassen sind ungepflastert und, da sie mit flüssigen Abfällen aller Art begossen werden, fast durchweg feucht. Der Lärm erscheint anfangs überwältigend. Peitschenknallen, Eselgeschrei, Kamelgebrüll, die anfeuernden und warnenden Stimmen der Treiber, die Rufe der Hausierer und der Gewerbsleute, alles tönt laut und wild durcheinander.«

Eine Drei-Sterne-Stadt war um die Jahrhundertwende Konstantinopel, die ›Pforte der Glückseligkeit‹ (Der i Seadet), das heutige Istanbul.

Hierher gelangte man mit Dampfern von Brindisi, Triest, Venedig, aber auch von Piräus, Smyrna, Saloniki, vom rumänischen Constanza aus oder dem russischen Odessa. Allein die Übersicht über die verschiedenen Dampferlinien Richtung Konstantinopel und zurück machte in einem Reiseführer aus der Zeit elf engbedruckte Seiten aus. Selbstverständlich gelangte man auch mit der Eisenbahn ans Ziel. Der schon damals sagenhafte Orient-Express bot allen nur erdenklichen Luxus; aber auch die übrigen Schnellzüge hatten auf den Routen über Belgrad und Constanza bequeme Schlafwagen angehängt. Als in der ersten Klasse besonders komfortabel wurden die russischen Waggons gerühmt. Konstantinopel war damals Hauptstadt des türkischen Reiches, Residenz des Großsultans und Sitz seiner Regierung, der ›Hohen Pforte‹. Ferner Sitz des Oberhauptes der türkischen mohammedanischen Geistlichkeit, des griechischen, des armenisch-gregorianischen und des armenisch-katholischen Patriarchen, eines päpstlichen Delegaten und eines Großrabbiners.

Bei solch kosmopolitischem Gepräge konnte man sich in der Stadt und ihren Vororten ohne jede Schwierigkeit auch in Deutsch verständlich machen. Im Hinterland war die Verständigung etwas schwieriger. Weiter östlich in Kleinasien wurde nur Türkisch verstanden, »und damit werden Europäer nur selten Bescheid wissen«, vermutete der Reiseführer. Bei Reisen hierhin war deswegen unbedingt ein Dragoman mitzunehmen.

Kosmopolitisch war auch Berlin, die Hauptstadt des deutschen Kaiserreichs, um die Jahrhundertwende mit zweieinhalb Millionen Einwohnern »die dritte Stadt Europas nach London und Paris«. Sie bot den Reisenden aus aller Welt eine Unzahl von Sehenswürdigkeiten und Vergnügungen, einschließlich der Bälle (»im kgl. Opernhause, wird vom Hof besucht«) bis zum Kunstreiten in mehreren Zirkusmanegen.

Berlin war zu dieser Zeit aber auch die erste Industriestadt des Kontinents. Der Beweis in einem Reisebuch-Satz: »Hervorragend sind die Eisengießerei, der Bau von Maschinen, Lokomotiven, Eisenbahnmaterial, Wagen, die Fabrikation von Waffen und Kriegsmaterial, die gewaltig aufstrebende Elektricitäts- und Beleuchtungsindustrie, die Fabrikation von Haushalts- und Wirtschaftsgegenständen, Schmiedewaren, die chemische Industrie, die Präcizionsmechanik, die Kunsttischlerei, die Textilindustrie, die Porzellanfabrikation, die Herstellung von Teppichen, Wachstuch, Linoleum, Leinenwaren, Modeartikeln, die Bekleidungskonfektion sowohl für feinere Ausstattung wie namentlich für billige Massenartikel, deren Erzeugnisse nach allen Ländern der Erde gehen, u.s.w.«.

Jeder Reiseführer spiegelt in Haupt- und Nebensätzen die Realität eines bestimmten Jahres. Nebeneinander gelegt, sind sie Geschichte pur.

Der erste Baedeker, der nach dem Zweiten Weltkrieg erschien - zwar in Rot, aber ohne Goldschrift -, war der Band ›Leipzig‹, sozusagen ein Geschenk des Verlages an sich selbst. Leipzig, das Zentrum des deutschen Buchgewerbes, war nämlich seit 1872 Sitz des Verlages Karl Baedeker. Jedenfalls heißt es im Stadtführer von 1948 (64 Seiten, zwei Karten): »Durch den Krieg wurden über 40 Prozent aller Wohnungen und 830 öffentliche Gebäude beschädigt oder zerstört, darunter 25 Kirchen. Immerhin ist das Ausmaß der Zerstörungen in Leipzig nicht ganz so trostlos wie in anderen deutschen Großstädten.«

Ein Vierteljahrhundert später legt der Stadtführer ›Leipzig‹, herausgegeben vom Volkseigenen Betrieb F. A. Brockhaus, Lizenz-Nr. 455/150/22/76, Wert darauf, dass Leipzig immer eine Hochburg der Arbeiterbewegung gewesen sei. Es wird erwähnt, dass hier 1848 die ›Arbeiterverbrüderung‹ gegründet wurde, die Dachorganisation der Deutschen Arbeitervereine; dass Ferdinand Lasalle, August Bebel, Rosa Luxemburg, Wilhelm und Karl Liebknecht hier für den Fortschritt gekämpft hatten. Und, Höhepunkt von alledem: »Lenin hat sich wiederholt in der Stadt aufgehalten.«