Am Wochenende

Artikel

In allen Blättern der VRM-Gruppe erscheint Woche für Woche ein Wochenend-Journal, mithin in neun großen Tageszeitungen im Rhein-Main-Gebiet, von der Allgemeinen Zeitung Mainz über das Darmstädter Echo, den Wiesbadener Kurier bis zum Gießener Anzeiger. Mit insgesamt 28 Tageszeitungsausgaben werden täglich fast eine Million Menschen erreicht. In diesem Teil Am Wochenende arbeitet Hans Dieter Schreeb in unregelmäßigem Abstand mit. Bislang sind hier unter anderem Beiträge zu folgenden Themen gedruckt worden: Der Mann mit der schwarzen Stimme, ein Bill-Ramsey-Porträt Hugenotten – gehasst, geschätzt und gefürchtet Nichts mit nackten Füßen?

Der Gang nach Canossa Zuletzt (am 10. November 2018) erschien hier der Artikel Kaiserdämmerung, Untertitel: Verspottet und verlacht, der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II.   Verspottet und verlacht, der letzte deutsche Kaiser Wilhelm II. Den Schnurrbart nach unten gekämmt - so sollte ihn keiner erkennen. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg flüchtet Wilhelm II. ins niederländische Exil. 9. November 1918, ein deutscher Schicksalstag. Im kaiserlichen Hauptquartier im belgischen Kurort Spa meldet sich‚ „gegen 6.50 Uhr etwa“ der Hauptmann Fischer von Treuenfeld bei Flügeladjutanten Graf Sigurd von Ilsemann. Laut dessen Tagebuch schildert der Hauptmann, „dass die Truppe physisch völlig fertig“ ist. Seine Division liege seit Monaten „in vorderster Linie im Großkampf, mit sehr schwachen Gefechtsstärken, schlecht verpflegt, ohne Unterkunft unter freiem Himmel, in Sturm, Regen und Kälte, die Kleider zerrissen und so voller Läuse, dass die Leute nicht zum Schlaf kommen, auch wenn die Gefechtspausen in der Nacht mal etwas Ruhe geben.“ Es sei unmöglich, diese Truppen gegen das Vaterland zu führen, um dem Kaiser einzelne Städte zurückzuerobern. „Das Beste wird sein, ich schieße mich tot“ Damit ist eine weitere, letzte, unsinnige Hoffnung des Kaisers zerstoben. Der hohe Herr hatte sich vorgestellt, er könne an der Spitze ihm treu ergebener Truppen nach Deutschland zurückkehren und eigenhändig die Revolution niederschlagen. Doch seine Untergebenen in Berlin verhandeln längst mit dem Feind über das Kriegsende. Und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson verlangt Wilhelms Rücktritt. Während des ganzen Vormittags des 9. Novembers berät der Kaiser in Spa mit Vertrauten über diese Forderung. Er entschließt sich, als Kaiser abzutreten, aber als König von Preußen weiterzumachen. Als er endlich zu diesem Kompromiss gelangt ist, wird ihm mitgeteilt: zu spät! Der wankelmütige Reichskanzler Max von Baden hat bereits auf eigene Faust bekannt gegeben, Wilhelm II. werde als Kaiser und König abtreten. Der Kaiser seufzt tief, als er das hört („ein furchtbarer Seufzer“ notiert Ilsemann) und sagt: „Das Beste wird sein, ich schieße mich tot.“ Dann denkt er darüber nach, wann er wie in welches Exil gelangen könnte. Ilsemann macht sich Gedanken, in welcher Verkleidung dies am besten gelänge. „Ich war für Fortnahme des Schnurrbarts und des größten Teils der Haare. Der Rest müsste gefärbt werden ... dazu noch ein Kneifer." Wilhelm war einverstanden, nur seinen Bart wollte er partout nicht abrasieren. Um sich unkenntlich zu machen, hatte der Kaiser andere Pläne, so sein Adjutant: „Den Schnurrbart will er beschnitten nach unten drehen und dann den Kneifer aufsetzen." Später oft persifliert, besitzt der Kaiser eigentlich gute Anlagen: Er ist von schneller Auffassungsgabe, geistig wendig und hat ein gutes Gedächtnis. Trotzdem wird der am 27. Januar 1859 geborene Enkel des deutschen Kaisers Wilhelm I. und der britischen Königin Victoria zu einer der unglücklichsten Figuren der deutschen Geschichte. In vollem Bewusstsein, dass sein Befehl falsch ist, schickt er die deutsche Armee 1914 in ihr Unglück. Bereits seine Geburt steht unter einem schlechten Stern. Es gibt schwere Komplikationen; bei der Entbindung wird sein linker Arm verletzt und anschließend falsch behandelt. Zeit seines Lebens sucht er diese Lähmung zu kaschieren. Wahrscheinlich liegt in diesem Gebrechen der Keim des Minderwertigkeitsgefühls, das den Herrscher später nie loslassen sollte. Und das ihn zur großen Geste verführt. Im Neuen Palais in Potsdam – dem Schloss, in dem er und seine Frau einen großen Teil ihres Lebens verbringen − hängt ein übergroßes Porträt von Kaiser Wilhelm II., gemalt 1911 von Philipp de László. Es zeigt einen stattlichen Mann in einer Phantasie-Uniform, eine Hand auf dem Sattelzeug eines treuen Pferdes, die andere auf einem Schwert. Umspielt werden Pferd und Kaiser von einem Windhund. Das ist das Bild, das Wilhelm II. von sich hat, eine heldenhafte Figur aus der großen Oper. Der Kaiser liebt auch die Kamera; er posiert, wo eine steht. Zugleich trägt die neu entstandene Massenpresse dazu bei, Spott über ihm auszugießen. Über seine Uniformen wird gewitzelt. „Serenissimus, im Badezimmer ist ein Rohr geplatzt.“ – „Bringen Sie die Admiralsuniform“, schreibt der Simplicissimus unter eine Karikatur. Die Industrialisierung Deutschlands, der Aufstieg zur Weltmacht, die unsinnige Militarisierung aller Bereiche des täglichen Lebens – all dies dient Wilhelm II. zur Selbstüberhöhung. Seinem Volk verspricht er, im Nachhinein wirkt es wie Hohn: „Zu Großem sind wir bestimmt, und herrlichen Tagen führe ich Euch entgegen.“ Als es aber darauf ankommt, unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und im Weltkrieg selbst, lässt er sich von den Militärs dirigieren, auch das gehört zur Wahrheit. Am 11. November 1918, dem Tag der Unterzeichnung des Waffenstillstands, erreicht er die Niederlande. Königin Wilhelmina gewährt ihm Asyl. Von dort aus verkündet Wilhelm II. am 28. November 1918 seine Abdankung. Bis zu seinem Tod am 4. Juni 1941 wird er auf Schloss Doorn in der Nähe von Utrecht leben, immer in der völlig vergeblichen Hoffnung, noch einmal gerufen zu werden. Mangels irgendwelcher Aufgaben verbringt er seine Zeit damit, Hof zu halten und Holz zu sägen. Adjutant Ilsemann protokolliert: „Der Kaiser hält den Baum, die Gräfin Elisabeth (Hofdame der Kaiserin) und ich sägen. Die Kaiserin legt die abgeschnittenen Stücke auf einen Haufen zusammen." Und m 30. Oktober 1919: „Der Kaiser sägte heute den 11 000 Baum.“ Des Kaisers Getreue leiden unter dessen Marotte. Ilsemann: „Nur sonntags und bei besonders schönem Wetter wird nicht gesägt." Immerhin wohnt der Hofstaat im Exil standesgemäß: Die verhasste Republik schafft 59 Güterwaggons, beladen mit erlesenen Möbelstücken, Kunstwerken, Waffen und Kleidung, nach Doorn. 1921 stirbt Wilhelms II. Gemahlin Auguste Viktoria, mit der er sieben Kinder hat, sechs Jungen und eine Tochter. Schon ein Jahr später, 1922, heiratet er eine Bewunderin: Hermine Fürstin von Schönaich-Carolath, die aber schon bald jedwede Hochachtung für den Angetrauten verliert. Es kommt zu einer Ehe, die wie eine Strafe ist – für alles. Hans Dieter Schreeb