Heute höre ich auf, auf Radio Rheinwelle aus Berlin zu berichten. Dies, weil ich bald 85 Jahre alt werde und das Leben vor allem vom Sofa aus beobachte. In den ersten Jahren meiner Berliner Zeit habe ich gern an Pressekonferenzen teilgenommen – auch die der Bundespressekonferenz – und Stadtteile besucht, in die niemand fährt; einfach, um Berlin kennenzulernen. Das habe ich nach und nach eingestellt. Die Neugier erlischt und die Fähigkeit, vernünftig zu gehen, auch.
NeuwahlenLassen Sie es uns auch heute so halten wie immer: Beschäftigen wir uns als Erstes mit der Berliner Lokalpolitik.
Das gegenwärtig alles beherrschende Thema ist die Berliner Neuwahl. Sie kann nun, wie vorgesehen, am 12. Februar 2023 stattfinden. Am Dienstag hatte das Bundesverfassungsgericht den Weg für die Wahl frei gemacht. Die Richter in Karlsruhe lehnten einen Eilantrag verschiedener Lokalpolitiker, aber auch von Berliner Bürgern ab und ermöglichen dadurch die Wahl. Ob die Wiederholung aber überhaupt verfassungsgemäß ist, wird vom Bundesverfassungsgericht im sogenannten Hauptsacheverfahren weiter geprüft. Am ursprünglichen Wahltag, dem 26. September 2021, hatte es zahlreiche Pannen gegeben. Der Berliner Verfassungsgerichtshof entschied im November vergangenen Jahres in einem aufsehenerregenden Urteil, dass die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen ungültig seien und komplett wiederholt werden müssten – es seien einfach zu viele schwere Wahlfehler passiert. Seit Anfang des Jahres findet deswegen erneut Wahlkampf statt – bislang hat er noch nicht viel gebracht. Sieht man mal davon ab, dass Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) jede Festlegung auf eine Wunschkoalition vermeidet. Sie will sich erkennbar alle Möglichkeiten offenhalten. Es ist nur die Frage, ob sie und ihre SPD nach der Wahl noch Möglichkeiten haben. Derzeit regiert die SPD in Berlin in einer Dreierkoalition mit Grünen und Linkspartei. Jüngsten Umfragen zufolge kämen Giffeys Sozialdemokraten bei der Wahl auf den zweiten Platz hinter der CDU und knapp vor den Grünen. Ich kann mir vorstellen, dass die SPD nach verlorener Wahl gern mit der FDP und der CDU koalieren würde. Frau Giffey hat erkennbar mehr als genug von den Grünen und speziell von deren Spitzenfrau Bettina Jarasch. Weil Endspurt ist, in diesem zweiten Wahlkampf innerhalb von siebzehn Monaten, wird die Lösung aller anderen Berliner Probleme aufgeschoben – als da sind Wohnungsnot, veraltete und unzureichende Verwaltung, Überlastung der Justiz, zu wenige bzw. gar keine Lehrer, fehlende Kita-Plätze, Probleme mit Ein- und Zuwanderern und so weiter. Das Aufschieben geschieht aber schon seit Jahren, da kommt es nun auf wenige Wochen auch nicht mehr an.
Stimmung der BerlinerWie ist die Stimmung in der Stadt? Der ›Spiegel‹ hat kürzlich einen polemischen Artikel zum Thema gebracht. Er beginnt mit den Sätzen: »Wer Berlin liebt, muss hoffen, dass die Wahlwiederholung ausfällt, Rot-Grün-Rot aufhört und ein Bundeskommissar übernimmt.« Und es geht so weiter: »Ich liebe Berlin, ich möchte nirgendwo anders leben und arbeiten. Aber gerade deswegen: Entmündigt diese Stadt! Soll McKinsey, die Heilsarmee oder ein Bundeskommissar übernehmen, aber nicht noch einmal diese Trümmercombo aus SPD, Grüne und Linkspartei. Und bitte auch nicht CDU oder FDP, die immer noch so westberlinerisch reden, ticken, dealen, als wäre die Mauer nie gefallen.« Tatsächlich gibt’s den feststehenden Begriff: ›Berliner Verhältnisse‹, und er meint nichts Gutes! Dazu gehören die Krawalle an Silvester, wo junge Leute – in der Hauptsache junge Araber, die aus welchen Gründen auch immer, die Feuerwehr verachten – mit ihren Böllern auf Polizei und Feuerwehr geschossen haben; dazu gehören die Idioten, die (leider sehr freiliegende) Kabel an Bahngleisen durchschneiden und damit S-Bahn und ICE’s lahmlegen; einmal gleich in ganz Norddeutschland. Dazu gehören die Wichtigtuer der Letzten Generation, die die Menschen mit ihren Aktionen verrückt machen. Man sieht ihre Wahnwitz-Taten in der Tagesschau und noch mehr davon in der Berliner Abendschau. Und wie ist nun die Stimmung in der Stadt? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, in gewisser Weise auch eine Berliner Tageszeitung, brachte die Stimmung auf den Punkt: »Berlin gerät außer Rand und Band.«
1960 und folgende JahreHabe ich mir das so vorgestellt, als ich nach Berlin gezogen bin? Weiß Gott nicht, und es war auch nicht zu erwarten. Ich wohne seit 2010 in Berlin. Aber ich kenne die Stadt schon viel, viel länger – ich war fünfzig Jahre früher, also 1960, zum ersten Mal in Berlin. Ein Jahr vor dem Bau der Mauer. Ich war damals ganz junger Redakteur des Südwestfunks Baden-Baden und lebte auch da. Meine Freundin Charlotte hatte ein Haus am Wannsee, das sie verkaufen wollte. Häuser am Wannsee waren damals eher eine Belastung als ein Segen. Mein Führerschein war gerade ein paar Monate alt, also wollte ich unbedingt, dass wir mit ihrem DKW 3=6 dorthin fuhren. Laut Werksangabe betrug die Höchstgeschwindigkeit 123 km/h. Ich weiß nicht, ob wir diesen Spitzenwert je erreichten. Es gab drei Routen durch die DDR, damals noch die ›Ostzone‹ genannt oder noch abwertender ›die Zone‹. Wir wählten die Strecke über Helmstedt / Marienborn. Heute sind dies Gedenkstätten, damals jagten einem die Grenze und die Grenzer Beklemmung ein. Hatte man endlich nach stundenlanger Fahrt bei Tempo 100 über die holprige Autobahn die Kontrollstelle Dreilinden am Berliner Stadtrand hinter sich, gelangte man in die merkwürdig irreale Stadt West-Berlin. Zu der Zeit war sie weltweit vor allem als Agenten-Treff bekannt. Hier war man sozusagen mitten im Kalten Krieg, kälter wurde er nirgends. Selbst heute werden die Spionage-Romane aus dieser Berliner Epoche noch wie geschnittenes Brot verkauft – etwa die Bücher von John le Carré mit seinem legendären Helden George Smiley oder Len Deighton mit seinen Harry-Palmer-Geschichten. Im Kulturkaufhaus Dussmann kann man sie reihenweise in Deutsch und in Englisch haben. Uns ist selbstverständlich kein Spion begegnet, aber die besondere Atmosphäre der Stadt war zu spüren – die Sender im Westteil der Stadt hießen Sender Freies Berlin oder RIAS; Rundfunk im amerikanischen Sektor. Im Osten gab’s Ost-Sender und Ost-Zeitungen, praktisch unlesbar, dort gab’s des weiteren Betriebskampfgruppen und Massendemonstrationen und die Stalinallee hieß noch Stalinallee. Die Nachrichten waren buchstäblich schwarz-weiß. Die sogenannten Zonen-Sender stellten Willy Brandt, den damals noch neuen und erstaunlich jungen Regierenden Bürgermeister von West-Berlin (und auch Berliner Landesvorsitzender der SPD), als Hampelmann der Amerikaner dar. Es gab nicht die geringste Sympathie für ihn, und umgekehrt ließ Willy Brandt auch keine Zuneigung für Ost-Berlin und sein System spüren. Im Berlin von heute hat sich diese Zeit mehr oder minder in Luft aufgelöst, spielt überhaupt keine Rolle mehr. Immerhin gibt es noch Gruselecken – etwa das Spionage-Museum am Leipziger Platz, das Stasi-Untersuchungsgefängnis in Hohenschönhausen und natürlich das riesige Gelände an der Normannenstraße, das einmal die Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit war. Heute befindet sich hier unter anderem ein Stasi-Museum. Aber zurück zu meinen Erinnerungen: Der Kurfürstendamm bestand bei meinem ersten Besuch in Berlin zur Hälfte aus billigen, schnell hochgezogenen Nachkriegsbauten, zur anderen Hälfte aus den Überresten der Glanzzeit vor 1914. Man konnte noch unbehelligt zwischen Ost und West hin- und herwechseln, und viele Häuser in Ost- wie in West-Berlin sahen mit ihren Einschusslöchern aus, als sei der Zweite Weltkrieg erst vor ein paar Wochen zu Ende gegangen. Es gab noch keinen Tränenpalast und der Umtauschkurs zwischen Ost- und Westmark war 4:1. Die Bild-Zeitung kostete noch zehn Pfennige, die ‚Nacht-Depesche‘, die Lieblingslektüre der Arbeiter nach der Nachtschicht, ebenfalls. Und beide Zeitungen und alle anderen West-Zeitungen auch brachten täglich die Zahlen der aus der DDR Geflüchteten wie den Börsenkurs. Sie wurden irgendwie im Notaufnahmelager Marienfelde untergebracht und verhört ebenfalls. Jeder wusste, dass die DDR ausblutete; mal flohen 400 Menschen an einem Tag, mal 500 oder noch mehr. Diese ständige Fluchtbewegung war das größte Problem zwischen Ost und West. Da es sich zumeist um junge, qualifizierte Menschen handelte, die gingen und flohen, hatte die Fluchtwelle verheerende Auswirkungen auf die DDR- Wirtschaft. Berlin war für Zonenbürger der einzige Weg in den Westen – einfach in die S-Bahn eingestiegen und am Bahnhof Zoo wieder ausgestiegen. Selbst das war nicht ganz risikolos, aber mit etwas Mut und Glück gelang die Flucht. Jedermann wusste, die Verhältnisse konnten auf Dauer nicht so bleiben. Aber wie würden sie sich ändern? Würden die Russen kommen, ohne Rücksicht auf alle Drohungen der West-Mächte? Das war übrigens auch einer der Gründe, warum meine Freundin ihr Haus am Kleinen Wannsee verkaufte. Man wusste ja nicht … In diesem Jahr 1960 trat Marlene Dietrich zum ersten Mal wieder in Berlin auf – im Titania-Palast in Steglitz. Das war einer der wenigen Kinopaläste, die den Krieg überlebt hatten. Seit 1931 war Marlene nicht mehr in der Stadt gewesen (noch in der Nacht ihres Blauen-Engel-Ruhms war sie ohne Mann und Kind, allerdings mit ihrem Regisseur, nach Hollywood aufgebrochen) und die Begrüßung fiel 1960 sehr unterschiedlich aus. Im Titania-Palast flossen jedoch Tränen der Rührung. Am Tag der Deutschen Einheit, dem 17. Juni, waren in West-Berlin öffentliche Tanzveranstaltungen verboten, überhaupt alle Veranstaltungen, die nicht dem ernsten Charakter des Tages entsprachen. Der Reichstag war noch Ruine; immerhin hatte der Bundestag in Bonn bereits den Beschluss gefasst, das Gebäude wieder herrichten zu lassen. Wozu war aber noch unklar, und einen Architekten gab‘s zu der Zeit auch noch nicht.
Wie mir Berlin vertraut wurde …In den folgenden Jahrzehnten hatte ich immer mal beruflich in Berlin zu tun. Mit meinem Partner Hans-Georg Thiemt schrieb ich Fernseh-Serien für den Sender Freies Berlin; wir verfassten aber auch Werbespots für Berliner Filmproduktionen, sogar Vorschläge für Shows. Thiemt war glühender Berliner; Eisbein mit Erbsbrei und Sauerkraut bei Hardtke in der Meineckestraße, einer Seitenstraße des Kudamms, war für ihn der Höhepunkt der kulinarischen Genüsse. Demnächst sollen in den ehemaligen Hardtke -Räumen gleich zwei asiatische Restaurants eröffnet werden … Das sagt auch was aus.
Hans Georg Thiemt machte mich aber nicht nur mit Hardtke bekannt. Er zeigte mir auch den unglaublichen Jüdischen Friedhof in Weißensee und das Brecht-Theater in Mitte, wo er als DEFA-Regieassistent den Meister selbst erlebt hatte. Der geplante ›Mutter-Courage‹-Film mit ihm als Regieassistenten von Wolfgang Staudte kam allerdings nicht zustande. Als ich aus sehr privaten Gründen 2010 von Wiesbaden nach Berlin zog, kam ich also nicht in eine Stadt, die mir fremd war. Aber erst, als ich hier lebte, wurde mir klar, wie anders das hiesige Lebensgefühl ist. Seitdem habe ich Monat für Monat in meinen ›Berliner Brief‹ – für das Wiesbadener Tagblatt und später für den Wiesbadener Kurier verfasst – und in meinen Sendungen für Radio Rheinwelle versucht, die Eigenart der Stadt zu beschreiben. Ich kann nur sagen, der unbefangene Blick auf die Stadt, mit dem ich Berlin anfangs betrachtete, ist verloren gegangen. Das kann an meinem Alter liegen, aber auch an den erwähnten Berliner Verhältnissen. Jetzt ärgere ich mich wie jeder erwachsene Berliner über die hier herrschende organisierte Verantwortungslosigkeit, über die Tatsache, dass alle Verspechen vom Lernen aus Fehlern bei erstbester Gelegenheit wieder vergessen werden.
Dennoch staune ich wie die Meisten darüber, dass sich die Stadt trotz alledem zum Guten entwickelt. Sie entwickelt sich sogar unglaublich. Vor und nun wieder nach Corona ist Berlin Boomtown … So hat sich Berlin seit 2010 verändert In ganz Deutschland steigen die Mieten. In Berlin passiert das allerdings extrem schnell und entsprechend berichtet die Lokalsendung ›Abendschau‹ beinahe täglich von Verdrängungsprozessen. Mal werden Mieter brutal aus ihren Wohnungen gedrängt, mal Künstler aus ihren Ateliers oder Kitas aus ihren angemieteten Räumen.
Das Stadtbild verändert sich kontinuierlich. Wer mal ein paar Monate weg war, findet mit Sicherheit eine Menge Neues. In den Jahren, in denen ich nun in Berlin lebe, ist Berlin zu einem Touristenmagnet erster Güte geworden, kann sich mit Paris, Rom oder London vergleichen. Und besonders erfreulich, kaum ging Corona zurück, waren die Touristen wieder da! Unmittelbar nach der Wiedervereinigung Deutschlands brach in der gesamten DDR die Industrie zusammen, auch in Ost-Berlin, speziell in Ost-Berlin sogar. Lange leerstehende Fabriken wurden umgebaut – heute sind sie nicht nur teure Lofts. Auch die Arbeitsplätze sind wieder da. Modern, angenehm und zukunftssicher, da in neuester Weise für den Weltmarkt produziert wird. Oberschöneweide im Bezirk Treptow-Köpenick und direkt an der Spree gelegen, ist ein besonders gutes Beispiel für die Entwicklung. Oberschöneweide war einst eines der bedeutendsten städtischen Fabrikviertel. Die AEG hatte ihre Weltgeltung von hier aus erlangt. Nach der Wende wurde Oberschöneweide abgewickelt. Doch neues Leben erwachte. Ins ehemalige Kabelwerk Oberspree (KWO) zog nach 2006 die junge Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin ein. Mittlerweile hat die HTW Berlin rund 15 000 Studenten und über 500 Beschäftigte, ist die größte staatliche Fachhochschule Berlins. 2010 lag die Arbeitslosenquote der Stadt bei 13,6%. Auch jetzt ist sie immer noch höher als im Bundesdurchschnitt, doch wesentlich niedriger als damals. Sie liegt nun bei 9,1 Prozent, während der Durchschnittswert bundesweit bei 5,7 Prozent liegt. Mit einem Wort: Berlin ist immer noch arm, aber auch immer noch sexy. Und längst nicht mehr so arm wie damals.
Rund um die GedächtniskircheSelbst der Westen der Stadt, rund um Zoo und Gedächtniskirche, wurde in den Jahren, in denen ich hier lebe, aufgewertet. Wo früher Christiane F. und die übrigen Drogensüchtigen kifften, befindet sich nun eine glitzernde Mall und gegenüber ist das Luxushotel Waldorf Astoria hochgezogen worden. Das KaDeWe wurde bei laufendem Betrieb in den letzten Jahren umgebaut. Die Sechste Etage mit ihren eleganten Ständen – eigentlich Stück für Stück eigene Restaurants und Bars; einschließlich eines Kaviar-Imbisses – hat auf der ganzen Welt keine Konkurrenz. Hochwertige Gastronomie hat in ganz Berlin Einzug gehalten. Nirgendwo in Deutschland – weder in München noch im Schwarzwald – gibt es so viele Restaurants mit so vielen Michelin-Sternen.
Der Potsdamer Platz war zu Zeiten der Berliner Teilung Grenzgebiet, ergo eine einzige Riesenbrache. Der daran angrenzende Leipziger Platz teilte jahrzehntelang dieses Schicksal. Heute werden das Sony-Center und die Arkaden, die hier nach der Wiedervereinigung aus dem Boden gestampft wurden, grundlegend umgebaut. Einzig die Einkaufspassage Mall Of Berlin am Leipziger Platz ist in Betrieb.
Prenzlauer BergEin besonders prägnantes Beispiel für Gentrifizierung ist der Bezirk Prenzlauer Berg. Bis zum Mauerfall beherbergte der Bezirk die Ost-Berliner Boheme. Der Prenzlauer Berg mit seinen unsanierten, oft leerstehenden Altbauten hatte zur DDR-Zeit eine magische Anziehungskraft auf Lebenskünstler, Musiker, Schriftsteller und Studenten, naturgemäß auch auf Menschen diverser Geschlechter! Damals wurden die Wohnungen hier oft noch mit Kohle beheizt, man sah Kohlenwagen in den Straßen, es gab Außentoiletten, hieß: die Toilette befand sich auf halber Treppe im Treppenhaus. Viele Wohnungen hatte keine Dusche oder nur eine Duschecke in der Küche. Die Häuser und Höfe verfielen vor aller Augen, doch dazwischen entfaltete sich trotz aller Stasi-Bespitzelung ein widerspenstiger und kreativer Geist. Schon vor dem 9. November 1989 hatten in Prenzlauer Berg viele Wohnungen leer gestanden, sollten sie doch abgerissen werden.
Nach der Wende beschleunigte sich die Entwicklung. Viele Läden hielten der neuen Konkurrenz aus dem Westen nicht stand. Viele Häuser wurden besetzt, nun auch von aufsässigen jungen West-Menschen. Kneipen, Ateliers und Galerien entstanden. Für einen kurzen Moment gab‘s inmitten der Stadt eine einzigartige soziale Mixtur aus DDR-Charme und alternativen Lebensentwürfen West. Prenzlauer Berg wurde zur angesagten Gegend und folgerichtig setzten sich bald die harten Gesetze des Marktes auch hier durch – der Bezirk wurde zur Goldgrube von Maklern, Investoren und Immobilienhaien. Die ehemaligen Mietskasernen mit den Gründerzeitfassaden, die großen Wohnungen mit Dielenböden, Stuck und Doppelflügeltüren wurden vor allem für zuziehende Schwaben verlockend. Heute sieht man auf den lauschigen kleinen Plätzen und Parks ganz andere Bewohner als früher. Die Rentner und Arbeiter von ehedem sind weggezogen; heute leben hier viele Singles und Familien mit kleinen entzückenden Kindern mit hochmodischen Namen und sehr teuren Kinderwagen.
Das TachelesLange Jahre galt das Tacheles in der Oranienburger Straße als das Epizentrum der alternativen Kunst- und Kulturszene in Berlin-Mitte.
Das Kunsthaus Tacheles sah einerseits aus, als würde es den nächsten Tag nicht erreichen und einstürzen, andererseits war es Ort für Ateliers, Clubs, Ausstellungen und Konzerte, und dies bis 2012, als die Zwangsräumung durchgesetzt wurde. Ursprünglich war das Gebäude in der Oranienburger Straße ein Kaufhaus. Das Haus gehörte zu den am Anfang des 20. Jahrhunderts errichteten Friedrichstraßenpassagen, die sich von der Oranienburger bis zur Friedrichstraße erstreckten. Auch Wertheim war zeitweise Mieter. Weil das Gebäude während des Zweiten Weltkrieges stark beschädigt worden war, sollte es im nach der Wende im Februar 1990 gesprengt werden. Doch kurz vor der Sprengung besetzte die Künstlerinitiative Tacheles das Gebäude. Statt eines Abrisses wurde das Haus unter Denkmalschutz gestellt – und das bunte Treiben begann. Erst seitdem heißt das Haus Tacheles. Der Mietvertrag zwischen der Künstlergruppe und dem Eigentümer wurde nach 2010 nicht mehr verlängert. Darauf gab es sehr heftige Diskussionen über einen Erhalt des Tacheles und die Nutzung des Gebäudes und sehr wütende Demonstrationen. Ohne Erfolg. Selbst nach der Zwangsräumung gingen die Aufregungen und Demonstrationen weiter.
Der linke Teil der Stadt war voller Wut, wurde ihm doch ein Ort entrissen, wie er ihn sich erträumte. Gegenwärtig sieht man hier vor allem Beton, unglaubliche Massen von Beton. Wenn alles fertig ist, gibt es auf dem Tacheles-Gelände und den riesigen Grundstücken darum (früher in der Hauptsache Parkplatz) Luxusapartments, Büro- und Einkaufsflächen und alles auf höchstem Niveau.
Media-Spree und Media-Spree versenken!Ähnlich lief es mit ›Media-Spree‹! Der Projekt-Name bezieht sich auf ein etwa 3,7 Kilometer langes und 180 Hektar großes Gebiet auf beiden Ufern der Spree zwischen Ostbahnhof und Oberbaumbrücke. Neben großen, unbebauten Flächen befanden sich 1990 an den Ufern zahlreiche mehr oder minder leerstehende Industrie- und Gewerbebauten aus dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert, wie das Eierkühlhaus am Osthafen und die Eisfabrik; die Mauer war noch die verhasste Berliner Mauer und wurde erst Jahre später zur Touristenattraktion East Side Gallery.
Was 1990 typisches Grenzgebiet war, geriet rasch in den Blick des Senats und von internationalen Investoren. Entlang des Spreeufers sollten hier große Kommunikations- und Medienunternehmen angesiedelt werden. Auf den übrigen Grundstücken sollten Bürogebäude, Lofts, Hotels und andere Neubauten entstehen. Linke Kräfte wollten das sofort verhindern – sie wollten den Ort für sich. Sie erreichten einen Bürgerentscheid. Er wurde 2008 abgehalten und 87 % der Abstimmenden waren gegen ›Mediaspree‹.Der Senat unter dem Bürgermeister Wowereit ließ sich davon nicht beeindrucken. Er verfolgte das Projekt weiter und hatte damit Erfolg. Heute ist alles mehr oder minder zugebaut. Die Mercedes-Mehrzweckhalle ist die erfolgreichste ihrer Art in ganz Europa.
Es gibt hier jetzt Hotels, Zentralen von Mode- und Musik-Firmen haben sich angesiedelt, es gibt Autosalons und Wohnhochhäuser. Der ›Initiativkreis Media Spree versenken!‹ kämpft immer noch. Auf seiner Website heißt es: »Das Spreeufer wird weiter zugebaut. Auf einer Breite von 130 Metern werden jetzt kurz vor der Elsenbrücke zwei neue Blocks mit Luxuswohnungen errichtet. Die Gebäude mit der Postanschrift Stralauer Allee 13-14 werden von dem Münchener Bauträger „bauwerk capital“ errichtet. Zu Preisen von 4.000 bis 10.000 Euro pro Quadratmeter kaufen sich hier internationale Investoren ein.« Und weiter ist da zu lesen: »Die Gegend ist ein gutes Beispiel dafür, wie in Berlin weiterhin sterile Luxusbebauung Vorrang vor öffentlichen Flächen und Parks hat. Einziger Lichtblick ist da der 10 Meter schmale Uferweg. Wenigstens an dieser Stelle ermöglicht er dem gemeinen Volk einen Blick auf die Spree.«
Warum ich in Berlin binIch habe vorhin gesagt, ich bin aus sehr privaten Gründen 2010 nach Berlin gezogen. Vielleicht sollte ich das ein wenig präziser fassen. Einer der Gründe hat mit meiner Arbeit zu tun. Als ich achtzig wurde, gab meine Agentur Gallissas ein sehr schönes Fest auf dem Dach des Hotels Adlon – im Dachrestaurant müsste ich besser sagen –, das zu einem privaten Club gehört. Bei der Gelegenheit wollte ich eine Rede halten und mein Leben darstellen. In letzter Minute habe ich dann frei gesprochen und etwas Anderes erzählt. Aber das Manuskript habe ich noch und daraus zitiere ich den ersten Satz: »Mein Leben lang wollte ich schreiben und mein Leben lang habe ich geschrieben.« Ich wollte bei meiner Geburtstagsrede sechzig Jahre Arbeiten am Schreibtisch beschreiben; wie gesagt, es erschien mir plötzlich als zu lang und wenn ich die Rede heute und hier halten würde, würde sie alle Zeitbegrenzungen sprengen. Ich fasse die Fakten mal so zusammen: Ich war erst junger Zeitungsredakteur, dann Redakteur beim Südwestfunk. Dort aber habe ich mit dem Schreiben von Drehbüchern angefangen.
Mein Partner Hans-Georg Thiemt und ich waren über Jahrzehnte ein sehr erfolgreiches Autoren-Team – wir haben sehr viele und sehr erfolgreiche Fernseh-Serien und Fernseh-Spiele geschrieben. Thiemt wurde krank, starb dann und ich schrieb meine Romane, die teils erstaunlich gute Kritiken erhielten. Und damit bin ich endlich in Berlin und bei meiner Verlegerin, Trauzeugin und Freundin Bettina Weyers angekommen.
Als ich sie kennenlernte, hieß sie noch Bettina Migge, war Prokuristin des seit Hauptmann‘s und Brecht‘s Zeiten angesehenen Berliner Theaterverlags ›Felix Bloch Erben‹. Vor allem war Bettina trotz ihrer Jugend bereits selbst eine Größe im Theaterbetrieb zwischen Berlin und New York, einschließlich Paris und London. Ich besuchte sie in ihrem Büro in der Hardenbergstraße, unmittelbar neben dem Renaissance-Theater, weil ich hören wollte, was aus unserem Theaterstück ›Geldsorgen‹ geworden war. Der Stoff war ursprünglich ein Fernsehspiel, das das ZDF ausgestrahlt hatte; Hans-Georg Thiemt und ich hatten es zu einem Boulevardstück umgeschrieben und Bloch Erben hatte den Vertrieb übernommen. Es stellte sich heraus, dass das Stück trotz aller Bemühungen von keinem Theater gespielt worden war, und leider ist es bis heute nicht passiert. Ich fürchte, es wird trotz seiner guten Grundidee keine Auferstehung erleben – die Zeit ist darüber hingegangen.
Nun, für mich ist jedes Stück, jedes Buch, jeder Film in erster Linie ein Los in der Lotterie. Nie ist vorauszusagen, was wann wem gefallen wird bzw. ein Flop wird. ›Geldsorgen‹ hatte als Theaterstück eben Pech, dafür hatte es jedoch als Fernsehspiel sein Geld eingespielt … Mischkalkulation! Wichtig war vor allem, dass Bettina und ich schon beim ersten Zusammentreffen Pläne entwickelten, und wie wunderbar sind diese im Laufe der Zeit aufgegangen. Ich war dabei, als sie zunächst in der Wielandstraße, dann in der Potsdamer Straße ihre eigene Agentur Gallissas zusammen mit ihrem Mann, dem Bühnenbildner und Regisseur Christoph Weyers, aufbaute. Sie war auf dem Weg, eine absolute Größe im weltweiten Musikgeschäft zu werden, als sie von Corona zurückgeworfen wurde. Jedoch hat sie ihre Agentur halten können – das war vielen nicht vergönnt.
Zurück zu mir: Als erstes schrieb ich für Gallissas das Libretto zu einem Musical ›Heidi‹. Ich nummeriere es mittlerweile als Heidi I, denn danach habe ich das gut laufende Stück Heidi II geschrieben und gegenwärtig arbeite ich an Heidi III, das von der Walensee-Bühne im nächsten Jahr auf der dortigen Seebühne gespielt werden wird – der Vorverkauf läuft bereits! Nach Heidi I durfte ich das Buch zum Musical ›Tell‹ schreiben, das ebenfalls am Walensee Premiere hatte. ›Tell‹ hat mich, wie mir ein Schweizer Bundesrat sagte, zu einem Teil der Schweizer Nationalgeschichte gemacht. Bei einer Pressekonferenz in der Schweizer Botschaft in Wien, wo das Musical ›Heidi II‹ – Musik und Songs Michael Schanze – vorgestellt wurde, war der Botschafter der Eidgenossenschaft so liebenswürdig darauf hinzuweisen, dass es wohl nur wenigen Autoren vergönnt sei, beide Heroen der Schweiz, eben Tell und Heidi, dem großen Publikum noch näher zu bringen. Ich habe dann für und mit der Agentur Gallissas auch die glücklicherweise die gut laufenden Musicals ›Kohlhiesel’s Töchter‹ nach Ernst Lubitsch und ›Zeppelin‹ – Musik und Songs Ralph Siegel – geschrieben, und in allen steckt Herzblut von Bettina Weyers und mir. Das gilt auch für mein neuestes Musical ›Auf ewig Lola‹, ein Stück über Marlene Dietrich. Musik und Songs: Friedrich Holländer, Burt Bacharach, Cole Porter u.v.m. Die Geschichte wartet noch auf ihre Premiere; in der Ankündigung auf der Gallissas-Website heißt es: »Wie immer in seinen Stücken vereint der Autor auch in ›Auf ewig Lola‹ glücklich Politik und Liebe.
Bei jedem Satz und jeder Szene merkt man, er ist fasziniert und mitgerissen von seiner Heldin. Die Zuschauer werden es ebenfalls sein.« Selbstverständlich hätte ich dieses Textbuch wie alle anderen Libretti auch in Wiesbaden oder auf Mallorca schreiben können. Es hat sich aber herausgestellt, wenn man sich mit den Menschen, mit denen man es bei einem Stück zu tun hat, unkompliziert treffen kann, fällt die Arbeit wesentlich leichter und das Produkt wird besser. Insofern war es sehr vernünftig, dass ich nach Berlin gezogen bin.
Und wirklich schön ist es auch, dass ich in meinem Alter noch auf Premieren hoffen kann. Heidi II wird übrigens im Spätherbst diesen Jahres in Brünn uraufgeführt!
Mein KiezUnd wie habe ich’s, der geborene und tief überzeugte Wiesbadener in Berlin getroffen? Sehr gut! Als ich 2010 dorthin zog, erwischte ich sozusagen die letzte klassische Berliner Wohnung, die noch bezahlbar war. Meine Frau und ich wohnen seitdem in der Nähe der U-Bahn-Station Platz der Luftbrücke (samt Luftbrücken-Denkmal), mithin in der Nähe des ehemaligen Zentralflughafens Tempelhof und des mittlerweile legendär gewordenen Tempelhofer Feldes. Ich bete darum, dass die anvisierte ›Randbebauung‹ des Feldes zu meinen Lebzeiten nicht kommt.
Sie würde den Charakter des in seiner Art einmaligen Freizeitgeländes zerstören. Es ist unglaublich, welche Gefühle von Freiheit und Glück man bei Sonnenaufgang oder Untergang auf den ehemaligen Start- und Landebahnen spüren kann. Mein Kiez beginnt an der Marheinekehalle, am Ende der an schönen Sommertagen von Touristen überlaufenen Bergmannstraße. Das Schöne am Kiez ist, dass jeder selbst bestimmen kann, wo er für ihn anfängt und aufhört. Man muss sich da an keinerlei amtliche Vorgaben oder Grenzen halten. Die Marheinekehalle selbst ist eine Markthalle, wie sie mein Herz hat. So was kannte ich bis zu meinem Umzug nach Berlin nur aus Frankfurt oder Stuttgart; und natürlich aus Frankreich. Da hatte jede kleine Stadt eine solche Markthalle. Die Marheinekehalle wurde 1892 zur Versorgung der Bevölkerung gebaut und 2007 wieder so hergerichtet, wie sie ursprünglich ausgesehen hatte. Früher gab es in Berlin vierzehn solcher Markthallen; nur einige wenige haben überlebt.
Früher liegt bei mir meistens schon Jahrzehnte zurück. Insofern kann ich mich nicht beschweren, dass vieles verschwunden ist, was ich einmal kannte und liebte, einschließlich der Zehn-Pfennig-Kinoprogramme, der Zwanzig-Pfennig-Eistüte und der Serbischen Bohnensuppe für eine Mark bei Horten, später Galeria Horten. Noch später wurde daraus Galeria Kaufhof, aber da gab’s keine Serbische Bohnensuppe mehr.
Was nun meinen Kiez angeht, so würde ich an den meisten Tagen eigentlich nur die Manfred-von-Richthofen-Straße und einige Straßen rechts oder links davon so bezeichnen. Die Häuser, die hier stehen, wurden zum großen Teil um die Jahrhundertwende von 1900 angelegt; bürgerlich, repräsentativ, mit eigenen Eingängen und Treppenhäusern fürs Personal und für die Ewigkeit gedacht. Viele der Offiziere, die ihre Soldaten auf dem Tempelhofer Feld exerzieren ließen (spätestens ab 1914 starteten und landeten sie dort ihre Flugzeuge), wohnten in diesen Häusern. Entsprechend war diese Ecke der Stadt lange nur unter dem Namen ›Flieger-Viertel‹ bekannt. Manfred von Richthofen, nach dem meine Straße benannt ist, war der legendäre Rote Baron, ein Held des Ersten Weltkriegs. In der Richthofen-Apotheke unten im Haus hängt ein Bild seines berühmten Dreideckers und am Rand des früheren Flugfeldes gibt es einen Friedhof, in dem die Offiziere und Mannschaften der Kriegszeppeline des Ersten Weltkriegs bestattet sind. Diese Zeppeline konnten Höhen bis zu achttausend Meter erreichen! Kein Flugzeug konnte ihnen dahin folgen. Umso anfälliger waren sie, wenn sie runter mussten. In Berlin gibt’s die Redensart: Er kommt nie aus seinem Kiez raus! Ich komme zwar raus, aber ich müsste nicht.
Ich könnte hier leben und sterben, alles ist da. In der Nähe gibt‘s das St. Joseph Krankenhaus. Ein paar Schritte davon entfernt befindet sich der Bahnhof Südkreuz, der sich zu einem zweiten Hauptbahnhof entwickelt. Man kann von hier aus stündlich mit ICE’s nach Hamburg oder München fahren; von Südkreuz gibt’s auch schnelle direkte Verbindungen zum neuen Berliner Flughafen BER, diesem Unglücksflughafen. In der Manfred-von-Richthofen-Straße selbst existieren zwischen dem Platz der Luftbrücke und dem Adolf-Scheidt-Platz auf vierhundert, fünfhundert Meter Länge mehrere Bäckereien (einschließlich der Hofpfisterei aus München) und, zur Verwunderung meiner Bekannten, auch einen Fleischer vom alten Schlag. Er ist für seine Bratwürste berühmt und wird für diese Bratwürste auch regelmäßig ausgezeichnet. Des Weiteren gibt’s hier einen Optiker, einen Akustiker, mehrere Friseure, einen Fahrradladen, einen Schuster, mehrere Wäscherei-Annahmen, eine Post-Agentur und Bankautomaten. Als ich hier einzog, waren das noch ausgewachsene Bankfilialen; zählt auch schon zu früher. Es gibt hier mehrere Eisdielen; eine ist nur so breit wie eine Tür, andere an heißen Sommertagen Hausfrauentreffpunkt. Das Eis ist hier wie da erstklassig. Man kann in der Straße den ersten Spargel der Saison kaufen, tagesfrische Erdbeeren, Kirschen und im Herbst Steinpilze und Maronen. Es gibt asiatische und italienische Restaurants und solche mit sehr gemischtem Programm.
Es gibt einen Juwelier, ein Sanitätshaus und eine Buchhandlung. Sie hatte auch während der Corona-Epidemie geöffnet; in Berlin war der Buchhandel dem Lebensmittelhandel gleichgestellt. Des Weiteren existiert hier ein Laden, in dem alte Kisten zu Möbeln verarbeitet werden und leider hat EP:Fischer electronic, der Fachhändler meines Vertrauens vor wenigen Wochen dichtgemacht. Hier haben meine Frau und ich vom Kühlschrank bis zum Waffeleisen alles gekauft, was man für Haus und Küche braucht, einschließlich Staubsauger, Telefonanlage und Fernsehapparat. Wir haben zwei Lottoläden hier, auch ausreichend Nagelstudios, einen Butter-Lindner, verschiedene türkische Lebensmittelläden und Blumengeschäfte. Und die beiden Spätis sollten auch nicht vergessen werden, diese spezielle Berliner Institution. Was das Haus angeht, in dem wir wohnen – erbaut 1912, zum Teil Wohnungen mit 350 Quadratmeter Wohnfläche; in jedem Fall sehr hohe Decken, die noch den originalen Stuck tragen –, so ist dieses ein Universum in sich.
Im Erdgeschoss gibt es zwei Kindergärten, einer mit einheimischen Tempelhofer Kindern und ein zweiter, der vor einigen Jahren vom Kreuzberger Chamissoplatz vertrieben wurde und der Kreuzberger Kinder aufzieht. Das sind zwei Welten, Wand an Wand. Die Kreuzberger Kinder werden von ihren radfahrenden Eltern mit einer Höflichkeit angesprochen, dass die Ortansässigen nur die Augen verdrehen. So was gibt’s tatsächlich, scheinen sie stets aufs Neue zu denken. Dabei muss man wissen, dass die Bezirke Kreuzberg und Tempelhof unmittelbare Nachbarn sind; die Dudenstraße, die die Grenze zwischen diesen Bezirken bildet, ist eine Parallelstraße zur Manfred-von-Richthofen-Straße. Insofern wissen die Einen was sie von den Anderen zu halten haben; allem Anschein nach ist das nicht viel. In dem Haus, in dem ich wohne, gibt es Anwaltskanzleien; eine Filmfirma ist ausgezogen, die Räume sind aber schon wieder vermietet. Es gibt Internisten, Fuß- und Ohrenärzte, einen Psychiater und mehrere Psychiaterinnen. Eine Zahnärztin, die gern Kuchen backt, wohnt hier, hat aber ihre Praxis in einem anderen Stadtteil. Trotzdem bin ich ihr treuer und dankbarer Patient. Mit mehreren Menschen im Haus habe ich mich im Laufe der Zeit angefreundet; einer von ihnen, ein bekannter Bildhauer, ist vollkommen unerwartet und gewissermaßen vor unseren Augen gestorben. Es war ein Schock. Zum hundertjährigen Bestehen des Hauses gab’s ein Hoffest; das erste und einzige, das je hier gefeiert wurde.
Man kann den Hof nur von den Kellern aus erreichen, insofern wird er nicht genutzt und nicht bepflanzt. Einzig eine überdimensionale Akazie wächst hier. Sie ist mittlerweile so groß und so verwachsen, dass Industriekletterer sie schneiden müssen. Unsere Schlafzimmerfenster gehen zu diesem Hof; so ruhig habe ich noch nie gewohnt und noch nie geschlafen; selbst auf dem Land und am Waldrand ist es nach meiner Erfahrung wesentlich lauter. Insgesamt lebt es sich, so wie ich es kennengelernt habe, in meinem Kiez wie in einem Dorf. Jeder weiß was vom Anderen und jeder achtet auch auf den Anderen; das Ganze geschieht aber so diskret und beiläufig, dass das Großstadtgefühl nicht verloren geht. Es ist, allem in allem, eine sehr eigene, dabei aber sehr angenehme Lebensart.
Und was habe ich vor?Das Schreiben von Geschichten und das Beschreiben von Fakten möchte ich gern so lange fortsetzen, wie es möglich ist. Falls es jemand wissen will: Zurzeit schreibe ich neben dem Libretto Heidi III einen Roman mit dem Arbeitstitel ›Äquatortaufe‹. Er zeigt Deutsche in Brasilien und ist angeregt durch die Familiengeschichte meiner Frau. Der Roman sollte eigentlich schon vor vielen Jahren fertig sein.
Nun, wird er eben später fertig … Und dann habe ich neuerdings noch eine ganz große Hoffnung: Die besten meiner Romane, Hörbücher und Hörspiele – Ralph Siegel würde sagen ›mein Lebenswerk‹ – liegen seit kurzem bei einer New Yorker Filmfirma, die für Netflix produziert.
Wenn nur einer der Stoffe für eine Streaming-Serie ausgewählt würde … Ich darf gar nicht darüber nachdenken, was dann wäre … Vielen Dank fürs Zuhören und drücken Sie mir die Daumen! Das war’s endgültig!